nach dessen Darstellung jene Rechnung bald genug in der Kirche berichtigt wurde.
In auffallendem Contraste mit diesem niedrigsten An- schlag der Zeit von Jesu öffentlichem Leben steht die eben- falls sehr alte Tradition, dass Jesus zwar im dreissigsten Jahr getauft worden, aber bei seiner Kreuzigung nicht mehr weit von den Funfzigen entfernt gewesen sei 12), ei- ne Angabe, welche ihr Gewährsmann Irenäus auf das Zeugniss aller derjenigen zurückführt, welche in Kleinasien mit Johannes zusammengelebt und diess von ihm gehört ha- ben. Auch diese Annahme jedoch, wie die zuvor angeführte, scheint nur auf einer missverstandenen N. T.lichen Stelle zu beruhen, auf welche sich auch Irenäus beruft, auf Joh. 8, 57. nämlich, wo die Juden Jesu entgegenhalten: pen- tekonta ete ou"po ekheis, kai Abraam eorakas; woraus man schliessen zu dürfen glaubte, Jesus müsse damals schon in das funfzigste Jahr gegangen sein. Allein gar wohl konnten die Juden auch zu einem etlich und Dreissigjähri- gen sagen, er sei viel zu jung, um Abraham gesehen zu haben, da er ja noch nicht einmal das funfzigste Jahr er- reicht, d. h. nach jüdischer Vorstellung, das Mannesalter vollendet habe 13).
So wissen wir also aus unsern Evangelien nicht genau, wie lange Jesu öffentliches Wirken gedauert habe, sondern können nur so viel sagen, dass es, wenn wir dem vierten Evangelium folgen, nicht unter zwei Jahren und etwas darüber anzuschlagen wäre. Allein die mehreren Festrei- sen, auf welche diese Zeitbestimmung sich gründet, sind ja selbst nicht über allen Zweifel erhaben.
Diesem minimum gegenüber erhalten wir ein maximum für die Dauer des öffentlichen Lebens Jesu, wenn wir die Angabe des Lukas 3, 1 ff. und 23. so verstehen, dass die
12) Iren. 2, 39.
13)Lightfoot und Tholuck z. d. St.
Drittes Kapitel. §. 55.
nach dessen Darstellung jene Rechnung bald genug in der Kirche berichtigt wurde.
In auffallendem Contraste mit diesem niedrigsten An- schlag der Zeit von Jesu öffentlichem Leben steht die eben- falls sehr alte Tradition, daſs Jesus zwar im dreissigsten Jahr getauft worden, aber bei seiner Kreuzigung nicht mehr weit von den Funfzigen entfernt gewesen sei 12), ei- ne Angabe, welche ihr Gewährsmann Irenäus auf das Zeugniſs aller derjenigen zurückführt, welche in Kleinasien mit Johannes zusammengelebt und dieſs von ihm gehört ha- ben. Auch diese Annahme jedoch, wie die zuvor angeführte, scheint nur auf einer miſsverstandenen N. T.lichen Stelle zu beruhen, auf welche sich auch Irenäus beruft, auf Joh. 8, 57. nämlich, wo die Juden Jesu entgegenhalten: πεν- τήκοντα ἔτη ου῎πω ἔχεις, καὶ Ἀβραὰμ ἑώρακας; woraus man schlieſsen zu dürfen glaubte, Jesus müsse damals schon in das funfzigste Jahr gegangen sein. Allein gar wohl konnten die Juden auch zu einem etlich und Dreissigjähri- gen sagen, er sei viel zu jung, um Abraham gesehen zu haben, da er ja noch nicht einmal das funfzigste Jahr er- reicht, d. h. nach jüdischer Vorstellung, das Mannesalter vollendet habe 13).
So wissen wir also aus unsern Evangelien nicht genau, wie lange Jesu öffentliches Wirken gedauert habe, sondern können nur so viel sagen, daſs es, wenn wir dem vierten Evangelium folgen, nicht unter zwei Jahren und etwas darüber anzuschlagen wäre. Allein die mehreren Festrei- sen, auf welche diese Zeitbestimmung sich gründet, sind ja selbst nicht über allen Zweifel erhaben.
Diesem minimum gegenüber erhalten wir ein maximum für die Dauer des öffentlichen Lebens Jesu, wenn wir die Angabe des Lukas 3, 1 ff. und 23. so verstehen, daſs die
12) Iren. 2, 39.
13)Lightfoot und Tholuck z. d. St.
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Drittes Kapitel. §. 55.
nach dessen Darstellung jene Rechnung bald genug in der
Kirche berichtigt wurde.
In auffallendem Contraste mit diesem niedrigsten An-
schlag der Zeit von Jesu öffentlichem Leben steht die eben-
falls sehr alte Tradition, daſs Jesus zwar im dreissigsten
Jahr getauft worden, aber bei seiner Kreuzigung nicht
mehr weit von den Funfzigen entfernt gewesen sei 12), ei-
ne Angabe, welche ihr Gewährsmann Irenäus auf das
Zeugniſs aller derjenigen zurückführt, welche in Kleinasien
mit Johannes zusammengelebt und dieſs von ihm gehört ha-
ben. Auch diese Annahme jedoch, wie die zuvor angeführte,
scheint nur auf einer miſsverstandenen N. T.lichen Stelle
zu beruhen, auf welche sich auch Irenäus beruft, auf Joh.
8, 57. nämlich, wo die Juden Jesu entgegenhalten: πεν-
τήκοντα ἔτη ου῎πω ἔχεις, καὶ Ἀβραὰμ ἑώρακας; woraus man
schlieſsen zu dürfen glaubte, Jesus müsse damals schon
in das funfzigste Jahr gegangen sein. Allein gar wohl
konnten die Juden auch zu einem etlich und Dreissigjähri-
gen sagen, er sei viel zu jung, um Abraham gesehen zu
haben, da er ja noch nicht einmal das funfzigste Jahr er-
reicht, d. h. nach jüdischer Vorstellung, das Mannesalter
vollendet habe 13).
So wissen wir also aus unsern Evangelien nicht genau,
wie lange Jesu öffentliches Wirken gedauert habe, sondern
können nur so viel sagen, daſs es, wenn wir dem vierten
Evangelium folgen, nicht unter zwei Jahren und etwas
darüber anzuschlagen wäre. Allein die mehreren Festrei-
sen, auf welche diese Zeitbestimmung sich gründet, sind
ja selbst nicht über allen Zweifel erhaben.
Diesem minimum gegenüber erhalten wir ein maximum
für die Dauer des öffentlichen Lebens Jesu, wenn wir die
Angabe des Lukas 3, 1 ff. und 23. so verstehen, daſs die
12) Iren. 2, 39.
13) Lightfoot und Tholuck z. d. St.
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 457. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/481>, abgerufen am 22.11.2024.
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