hier eine Differenz zwischen den Synoptikern und Johan- nes zuzugestehen, und vielleicht auch eine Schwankung des lezteren für sich, indem er in mehreren Anreden an Jesum die übliche Formel, welche das u[i]os tou theou mit Khrisos oder barileus tou Israel verband, beibehielt, ohne sich, wie man bei Formeln diess oft unterlässt, den Unter- schied zwischen der Bedeutung, welche das uios t. th. in dieser Verbindung haben musste, und dem Sinn, in wel- chem er es sonst nahm, zum deutlichen Bewusstsein zu bringen; denn ebensowenig als in der Frage des Hohen- priesters will sich in der Anrede Nathanaels jener Aus- druck zu einer höheren Bedeutung hinaufschrauben lassen4).
Dass nun aber im vierten Evangelium Jesus und seine Gegner die theokratische Bedeutung des Ausdrucks: uios tou theou so ganz ignoriren, hat der Verfasser der Probabi- lien mit Recht bedenklich gefunden 5); denn sowohl Jesu als den Juden, mit welchen er es zu thun hatte, musste diese Bedeutung am nächsten liegen, wofern unter densel- ben kein alexandrinisch gebildeter war, welchem freilich, wie auch dem vierten Evangelisten als Verfasser des Pro- logs, das metaphysische Verhältniss des logos monogenes zu Gott noch näher lag.
§. 60. Jesu Sendung und Vollmacht; seine Präexistenz.
In Bezug auf die Erklärungen Jesu über seine göt- liche Sendung und Vollmacht stimmen die vier Evangelien überein. Wie jeder Prophet, so ist auch er von Gott ge- sendet (Matth. 10, 40. Joh. 5, 23 f. 36 f. u. sonst, handelt und redet im Auftrag und unter unmittelbarer Leitung Got- tes (Joh. 5, 19 ff.), er ist im ausschliesslichen Besiz der adae- quaten Gotteserkenntniss, die er allein den Menschen mit- theilen kann (Matth. 11, 27. Joh. 3, 13.). Als dem Mes-
4) Wie diess gleichwohl Olshausen versucht, 2, S. 70 f.
5) S. 53 f. 85.
Zweiter Abschnitt.
hier eine Differenz zwischen den Synoptikern und Johan- nes zuzugestehen, und vielleicht auch eine Schwankung des lezteren für sich, indem er in mehreren Anreden an Jesum die übliche Formel, welche das υ[ἱ]ὸς τοῦ ϑεοῦ mit Χριςὸς oder βαριλευς τοῦ Ἰσραὴλ verband, beibehielt, ohne sich, wie man bei Formeln dieſs oft unterläſst, den Unter- schied zwischen der Bedeutung, welche das υἱὸς τ. ϑ. in dieser Verbindung haben muſste, und dem Sinn, in wel- chem er es sonst nahm, zum deutlichen Bewuſstsein zu bringen; denn ebensowenig als in der Frage des Hohen- priesters will sich in der Anrede Nathanaëls jener Aus- druck zu einer höheren Bedeutung hinaufschrauben lassen4).
Daſs nun aber im vierten Evangelium Jesus und seine Gegner die theokratische Bedeutung des Ausdrucks: υἱὸς τοῦ ϑεοῦ so ganz ignoriren, hat der Verfasser der Probabi- lien mit Recht bedenklich gefunden 5); denn sowohl Jesu als den Juden, mit welchen er es zu thun hatte, muſste diese Bedeutung am nächsten liegen, wofern unter densel- ben kein alexandrinisch gebildeter war, welchem freilich, wie auch dem vierten Evangelisten als Verfasser des Pro- logs, das metaphysische Verhältniſs des λόγος μονογενὴς zu Gott noch näher lag.
§. 60. Jesu Sendung und Vollmacht; seine Präexistenz.
In Bezug auf die Erklärungen Jesu über seine göt- liche Sendung und Vollmacht stimmen die vier Evangelien überein. Wie jeder Prophet, so ist auch er von Gott ge- sendet (Matth. 10, 40. Joh. 5, 23 f. 36 f. u. sonst, handelt und redet im Auftrag und unter unmittelbarer Leitung Got- tes (Joh. 5, 19 ff.), er ist im ausschlieſslichen Besiz der adae- quaten Gotteserkenntniſs, die er allein den Menschen mit- theilen kann (Matth. 11, 27. Joh. 3, 13.). Als dem Mes-
4) Wie diess gleichwohl Olshausen versucht, 2, S. 70 f.
5) S. 53 f. 85.
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Zweiter Abschnitt.
hier eine Differenz zwischen den Synoptikern und Johan-
nes zuzugestehen, und vielleicht auch eine Schwankung
des lezteren für sich, indem er in mehreren Anreden an
Jesum die übliche Formel, welche das υἱὸς τοῦ ϑεοῦ mit
Χριςὸς oder βαριλευς τοῦ Ἰσραὴλ verband, beibehielt, ohne
sich, wie man bei Formeln dieſs oft unterläſst, den Unter-
schied zwischen der Bedeutung, welche das υἱὸς τ. ϑ. in
dieser Verbindung haben muſste, und dem Sinn, in wel-
chem er es sonst nahm, zum deutlichen Bewuſstsein zu
bringen; denn ebensowenig als in der Frage des Hohen-
priesters will sich in der Anrede Nathanaëls jener Aus-
druck zu einer höheren Bedeutung hinaufschrauben lassen 4).
Daſs nun aber im vierten Evangelium Jesus und seine
Gegner die theokratische Bedeutung des Ausdrucks: υἱὸς
τοῦ ϑεοῦ so ganz ignoriren, hat der Verfasser der Probabi-
lien mit Recht bedenklich gefunden 5); denn sowohl Jesu
als den Juden, mit welchen er es zu thun hatte, muſste
diese Bedeutung am nächsten liegen, wofern unter densel-
ben kein alexandrinisch gebildeter war, welchem freilich,
wie auch dem vierten Evangelisten als Verfasser des Pro-
logs, das metaphysische Verhältniſs des λόγος μονογενὴς zu
Gott noch näher lag.
§. 60.
Jesu Sendung und Vollmacht; seine Präexistenz.
In Bezug auf die Erklärungen Jesu über seine göt-
liche Sendung und Vollmacht stimmen die vier Evangelien
überein. Wie jeder Prophet, so ist auch er von Gott ge-
sendet (Matth. 10, 40. Joh. 5, 23 f. 36 f. u. sonst, handelt
und redet im Auftrag und unter unmittelbarer Leitung Got-
tes (Joh. 5, 19 ff.), er ist im ausschlieſslichen Besiz der adae-
quaten Gotteserkenntniſs, die er allein den Menschen mit-
theilen kann (Matth. 11, 27. Joh. 3, 13.). Als dem Mes-
4) Wie diess gleichwohl Olshausen versucht, 2, S. 70 f.
5) S. 53 f. 85.
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 482. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/506>, abgerufen am 22.11.2024.
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