sias ist ihm von Gott alle Gewalt übergeben (Matth. 11, 27.), zunächst über das von ihm zu stiftende und zu re- gierende Reich und dessen Mitglieder (Joh. 10, 29. 17, 6.), dann aber auch über alle Menschen überhaupt (Joh. 17, 2.) und selbst über die äussere Natur und somit über die ganze Welt (Matth. 28, 18.) sofern ohne eine durchgreifende Re- volution in dieser das messianische Reich nicht begründet werden kann. Bei einstiger Eröffnung dieses Reiches hat Jesus als Messias die Vollmacht, die Todten zu erwecken (Joh. 5, 28.) und das Gericht, die Scheidung derer, wel- che der Theilnahme am Gottesreich würdig sind, von den Unwürdigen, vorzunehmen (Matth. 25, 31 ff. Joh. 5, 22. 29.), -- lauter Befugnisse, welche die jüdische Zeitvorstellung dem Messias zuschrieb 1), welche also auch Jesus, hatte er sich einmal als Messias gefasst, auf sich scheint haben übertragen zu müssen.
Nicht ebenso einstimmig sind die Evangelisten in ei- nem andern Punkte. Während nämlich nach den Synop- tikern Jesus zwar für Gegenwart und Zukunft die höch- ste menschliche Würde und das erhabenste Verhältniss zur Gottheit sich zuschreibt, über den Anfang seines mensch- lichen Daseins aber nicht zurückgeht: so finden sich im vierten Evangelium mehrere Reden Jesu, welche die Be- hauptung einer Präexistenz desselben vor seiner menschli- chen Erscheinung in sich schliessen. Zwar wenn in diesem Evangelium Jesus sich als den vom Himmel auf die Erde Herabgekommenen bezeichnet (Joh. 3, 13. 16, 28.), so lässt sich diess für sich genommen leicht als blos bildliche Be- zeichnung seines höheren, göttlichen Ursprungs fassen. Schon schwerer, doch möglicherweise vielleicht, könnte die Behauptung Jesu: prin Abraam genesthai, ego eimi (Joh. 8, 58.) mit dem Socinianer Crell von einem blos idea- len Sein in der Vorherbestimmung Gottes, die Bitte an den Vater aber Joh. 17, 5., ihm die doxa zu gewähren,
1)Bertholdt, Christol. Jud. §§. 8. 35. 42.
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Viertes Kapitel. §. 60.
sias ist ihm von Gott alle Gewalt übergeben (Matth. 11, 27.), zunächst über das von ihm zu stiftende und zu re- gierende Reich und dessen Mitglieder (Joh. 10, 29. 17, 6.), dann aber auch über alle Menschen überhaupt (Joh. 17, 2.) und selbst über die äussere Natur und somit über die ganze Welt (Matth. 28, 18.) sofern ohne eine durchgreifende Re- volution in dieser das messianische Reich nicht begründet werden kann. Bei einstiger Eröffnung dieses Reiches hat Jesus als Messias die Vollmacht, die Todten zu erwecken (Joh. 5, 28.) und das Gericht, die Scheidung derer, wel- che der Theilnahme am Gottesreich würdig sind, von den Unwürdigen, vorzunehmen (Matth. 25, 31 ff. Joh. 5, 22. 29.), — lauter Befugnisse, welche die jüdische Zeitvorstellung dem Messias zuschrieb 1), welche also auch Jesus, hatte er sich einmal als Messias gefaſst, auf sich scheint haben übertragen zu müssen.
Nicht ebenso einstimmig sind die Evangelisten in ei- nem andern Punkte. Während nämlich nach den Synop- tikern Jesus zwar für Gegenwart und Zukunft die höch- ste menschliche Würde und das erhabenste Verhältniſs zur Gottheit sich zuschreibt, über den Anfang seines mensch- lichen Daseins aber nicht zurückgeht: so finden sich im vierten Evangelium mehrere Reden Jesu, welche die Be- hauptung einer Präexistenz desselben vor seiner menschli- chen Erscheinung in sich schlieſsen. Zwar wenn in diesem Evangelium Jesus sich als den vom Himmel auf die Erde Herabgekommenen bezeichnet (Joh. 3, 13. 16, 28.), so läſst sich dieſs für sich genommen leicht als blos bildliche Be- zeichnung seines höheren, göttlichen Ursprungs fassen. Schon schwerer, doch möglicherweise vielleicht, könnte die Behauptung Jesu: πρὶν Ἀβραὰμ γενέσϑαι, ἐγώ εἰμι (Joh. 8, 58.) mit dem Socinianer Crell von einem blos idea- len Sein in der Vorherbestimmung Gottes, die Bitte an den Vater aber Joh. 17, 5., ihm die δόξα zu gewähren,
1)Bertholdt, Christol. Jud. §§. 8. 35. 42.
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Viertes Kapitel. §. 60.
sias ist ihm von Gott alle Gewalt übergeben (Matth. 11,
27.), zunächst über das von ihm zu stiftende und zu re-
gierende Reich und dessen Mitglieder (Joh. 10, 29. 17, 6.),
dann aber auch über alle Menschen überhaupt (Joh. 17, 2.)
und selbst über die äussere Natur und somit über die ganze
Welt (Matth. 28, 18.) sofern ohne eine durchgreifende Re-
volution in dieser das messianische Reich nicht begründet
werden kann. Bei einstiger Eröffnung dieses Reiches hat
Jesus als Messias die Vollmacht, die Todten zu erwecken
(Joh. 5, 28.) und das Gericht, die Scheidung derer, wel-
che der Theilnahme am Gottesreich würdig sind, von den
Unwürdigen, vorzunehmen (Matth. 25, 31 ff. Joh. 5, 22. 29.),
— lauter Befugnisse, welche die jüdische Zeitvorstellung
dem Messias zuschrieb 1), welche also auch Jesus, hatte
er sich einmal als Messias gefaſst, auf sich scheint haben
übertragen zu müssen.
Nicht ebenso einstimmig sind die Evangelisten in ei-
nem andern Punkte. Während nämlich nach den Synop-
tikern Jesus zwar für Gegenwart und Zukunft die höch-
ste menschliche Würde und das erhabenste Verhältniſs zur
Gottheit sich zuschreibt, über den Anfang seines mensch-
lichen Daseins aber nicht zurückgeht: so finden sich im
vierten Evangelium mehrere Reden Jesu, welche die Be-
hauptung einer Präexistenz desselben vor seiner menschli-
chen Erscheinung in sich schlieſsen. Zwar wenn in diesem
Evangelium Jesus sich als den vom Himmel auf die Erde
Herabgekommenen bezeichnet (Joh. 3, 13. 16, 28.), so läſst
sich dieſs für sich genommen leicht als blos bildliche Be-
zeichnung seines höheren, göttlichen Ursprungs fassen.
Schon schwerer, doch möglicherweise vielleicht, könnte die
Behauptung Jesu: πρὶν Ἀβραὰμ γενέσϑαι, ἐγώ εἰμι (Joh.
8, 58.) mit dem Socinianer Crell von einem blos idea-
len Sein in der Vorherbestimmung Gottes, die Bitte an
den Vater aber Joh. 17, 5., ihm die δόξα zu gewähren,
1) Bertholdt, Christol. Jud. §§. 8. 35. 42.
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 483. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/507>, abgerufen am 22.11.2024.
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