Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweiter Abschnitt.
Grundelement in seinen messianischen Plan aufgenommen
habe?

Dass Jesus zum weltlichen Herrscher sich habe auf-
werfen wollen, ist von jeher von Gegnern des Christen-
thums behauptet, von keinem aber so scharf an der Hand
der Exegese durchgeführt worden, als von dem Wolfen-
büttler Fragmentisten 1), welcher ihm übrigens hiebei das
Streben nach sittlicher Besserung seiner Nation keineswegs
absprach. Das Erste, was dem Fragmentisten zufolge für
einen politischen Plan Jesu zu sprechen scheint, ist, dass
er immer nur schlechtweg das sich nahende Messiasreich
ankündigte und die Bedingungen des Eintritts in dasselbe
vorlegte, ohne sich näher darüber zu erklären, was es sei
und worin es bestehe 2), mithin den Begriff desselben als
einen allbekannten voraussetzte. Nun war aber der da-
mals herrschende Begriff von demselben überwiegend poli-
tisch gefärbt: folglich konnten die Juden, wenn Jesus ohne
nähere Erklärung vom Messiasreiche sprach, nur an eine
weltliche Herrschaft denken, und da Jesus keine andre
Auffassung seiner Worte voraussetzen konnte, so muss er
eben so haben verstanden sein wollen. Dasselbe scheint
sich daraus zu ergeben, dass er die Apostel, deren Vor-
stellungsweise ihm nicht verborgen sein konnte, zur Ver-
kündigung des Messiasreichs im Lande umherschickte
(Matth. 10). Nun aber hatten diese, welche sich um die
oberste Stelle in dem von Jesu zu errichtenden Reiche
zankten (Matth. 18, 1. Luc. 22, 24.), von welchen zwei
sich bestimmt die Sitze zur Rechten und Linken des messia-
nischen Königs ausbaten (Marc. 10, 35 ff.), welche selbst
nach dem Tod und der Auferstehung Jesu noch ein apo-
kathisanein ten basileian to Israel erwarteten (A. G. 1, 6),
diese hatten doch offenbar von Anfang bis zum Ende ihres

1) Von dem Zweck Jesu und seiner Jünger, S. 108--157.
2) Vgl. Fritzsche, in Matth. S. 114.

Zweiter Abschnitt.
Grundelement in seinen messianischen Plan aufgenommen
habe?

Daſs Jesus zum weltlichen Herrscher sich habe auf-
werfen wollen, ist von jeher von Gegnern des Christen-
thums behauptet, von keinem aber so scharf an der Hand
der Exegese durchgeführt worden, als von dem Wolfen-
büttler Fragmentisten 1), welcher ihm übrigens hiebei das
Streben nach sittlicher Besserung seiner Nation keineswegs
absprach. Das Erste, was dem Fragmentisten zufolge für
einen politischen Plan Jesu zu sprechen scheint, ist, daſs
er immer nur schlechtweg das sich nahende Messiasreich
ankündigte und die Bedingungen des Eintritts in dasselbe
vorlegte, ohne sich näher darüber zu erklären, was es sei
und worin es bestehe 2), mithin den Begriff desselben als
einen allbekannten voraussetzte. Nun war aber der da-
mals herrschende Begriff von demselben überwiegend poli-
tisch gefärbt: folglich konnten die Juden, wenn Jesus ohne
nähere Erklärung vom Messiasreiche sprach, nur an eine
weltliche Herrschaft denken, und da Jesus keine andre
Auffassung seiner Worte voraussetzen konnte, so muſs er
eben so haben verstanden sein wollen. Dasselbe scheint
sich daraus zu ergeben, daſs er die Apostel, deren Vor-
stellungsweise ihm nicht verborgen sein konnte, zur Ver-
kündigung des Messiasreichs im Lande umherschickte
(Matth. 10). Nun aber hatten diese, welche sich um die
oberste Stelle in dem von Jesu zu errichtenden Reiche
zankten (Matth. 18, 1. Luc. 22, 24.), von welchen zwei
sich bestimmt die Sitze zur Rechten und Linken des messia-
nischen Königs ausbaten (Marc. 10, 35 ff.), welche selbst
nach dem Tod und der Auferstehung Jesu noch ein ἀπο-
καϑιςάνειν τὴν βασιλείαν τῷ Ἰσραὴλ erwarteten (A. G. 1, 6),
diese hatten doch offenbar von Anfang bis zum Ende ihres

1) Von dem Zweck Jesu und seiner Jünger, S. 108—157.
2) Vgl. Fritzsche, in Matth. S. 114.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0512" n="488"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Zweiter Abschnitt</hi>.</fw><lb/>
Grundelement in seinen messianischen Plan aufgenommen<lb/>
habe?</p><lb/>
            <p>Da&#x017F;s Jesus zum weltlichen Herrscher sich habe auf-<lb/>
werfen wollen, ist von jeher von Gegnern des Christen-<lb/>
thums behauptet, von keinem aber so scharf an der Hand<lb/>
der Exegese durchgeführt worden, als von dem Wolfen-<lb/>
büttler Fragmentisten <note place="foot" n="1)">Von dem Zweck Jesu und seiner Jünger, S. 108&#x2014;157.</note>, welcher ihm übrigens hiebei das<lb/>
Streben nach sittlicher Besserung seiner Nation keineswegs<lb/>
absprach. Das Erste, was dem Fragmentisten zufolge für<lb/>
einen politischen Plan Jesu zu sprechen scheint, ist, da&#x017F;s<lb/>
er immer nur schlechtweg das sich nahende Messiasreich<lb/>
ankündigte und die Bedingungen des Eintritts in dasselbe<lb/>
vorlegte, ohne sich näher darüber zu erklären, was es sei<lb/>
und worin es bestehe <note place="foot" n="2)">Vgl. <hi rendition="#k">Fritzsche</hi>, in Matth. S. 114.</note>, mithin den Begriff desselben als<lb/>
einen allbekannten voraussetzte. Nun war aber der da-<lb/>
mals herrschende Begriff von demselben überwiegend poli-<lb/>
tisch gefärbt: folglich konnten die Juden, wenn Jesus ohne<lb/>
nähere Erklärung vom Messiasreiche sprach, nur an eine<lb/>
weltliche Herrschaft denken, und da Jesus keine andre<lb/>
Auffassung seiner Worte voraussetzen konnte, so mu&#x017F;s er<lb/>
eben so haben verstanden sein wollen. Dasselbe scheint<lb/>
sich daraus zu ergeben, da&#x017F;s er die Apostel, deren Vor-<lb/>
stellungsweise ihm nicht verborgen sein konnte, zur Ver-<lb/>
kündigung des Messiasreichs im Lande umherschickte<lb/>
(Matth. 10). Nun aber hatten diese, welche sich um die<lb/>
oberste Stelle in dem von Jesu zu errichtenden Reiche<lb/>
zankten (Matth. 18, 1. Luc. 22, 24.), von welchen zwei<lb/>
sich bestimmt die Sitze zur Rechten und Linken des messia-<lb/>
nischen Königs ausbaten (Marc. 10, 35 ff.), welche selbst<lb/>
nach dem Tod und der Auferstehung Jesu noch ein <foreign xml:lang="ell">&#x1F00;&#x03C0;&#x03BF;-<lb/>
&#x03BA;&#x03B1;&#x03D1;&#x03B9;&#x03C2;&#x03AC;&#x03BD;&#x03B5;&#x03B9;&#x03BD; &#x03C4;&#x1F74;&#x03BD; &#x03B2;&#x03B1;&#x03C3;&#x03B9;&#x03BB;&#x03B5;&#x03AF;&#x03B1;&#x03BD; &#x03C4;&#x1FF7; &#x1F38;&#x03C3;&#x03C1;&#x03B1;&#x1F74;&#x03BB;</foreign> erwarteten (A. G. 1, 6),<lb/>
diese hatten doch offenbar von Anfang bis zum Ende ihres<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[488/0512] Zweiter Abschnitt. Grundelement in seinen messianischen Plan aufgenommen habe? Daſs Jesus zum weltlichen Herrscher sich habe auf- werfen wollen, ist von jeher von Gegnern des Christen- thums behauptet, von keinem aber so scharf an der Hand der Exegese durchgeführt worden, als von dem Wolfen- büttler Fragmentisten 1), welcher ihm übrigens hiebei das Streben nach sittlicher Besserung seiner Nation keineswegs absprach. Das Erste, was dem Fragmentisten zufolge für einen politischen Plan Jesu zu sprechen scheint, ist, daſs er immer nur schlechtweg das sich nahende Messiasreich ankündigte und die Bedingungen des Eintritts in dasselbe vorlegte, ohne sich näher darüber zu erklären, was es sei und worin es bestehe 2), mithin den Begriff desselben als einen allbekannten voraussetzte. Nun war aber der da- mals herrschende Begriff von demselben überwiegend poli- tisch gefärbt: folglich konnten die Juden, wenn Jesus ohne nähere Erklärung vom Messiasreiche sprach, nur an eine weltliche Herrschaft denken, und da Jesus keine andre Auffassung seiner Worte voraussetzen konnte, so muſs er eben so haben verstanden sein wollen. Dasselbe scheint sich daraus zu ergeben, daſs er die Apostel, deren Vor- stellungsweise ihm nicht verborgen sein konnte, zur Ver- kündigung des Messiasreichs im Lande umherschickte (Matth. 10). Nun aber hatten diese, welche sich um die oberste Stelle in dem von Jesu zu errichtenden Reiche zankten (Matth. 18, 1. Luc. 22, 24.), von welchen zwei sich bestimmt die Sitze zur Rechten und Linken des messia- nischen Königs ausbaten (Marc. 10, 35 ff.), welche selbst nach dem Tod und der Auferstehung Jesu noch ein ἀπο- καϑιςάνειν τὴν βασιλείαν τῷ Ἰσραὴλ erwarteten (A. G. 1, 6), diese hatten doch offenbar von Anfang bis zum Ende ihres 1) Von dem Zweck Jesu und seiner Jünger, S. 108—157. 2) Vgl. Fritzsche, in Matth. S. 114.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/512
Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 488. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/512>, abgerufen am 22.11.2024.