Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.Viertes Kapitel. §. 63. des Stifters die Abschaffung des Mosaismus gelegen habe,und je höher durch eine solche Erhebung über den engen Gesichtskreis des jüdischen Ceremonialdienstes Jesus zu stehen kommt, desto mehr haben sich von jeher die Apo- logeten angelegen sein lassen, den Beweiss dafür zu füh- ren 1). Auch fehlt es keineswegs an Aussprüchen und Handlungen Jesu, welche unverkennkar dahin zu deuten scheinen. Wo immer er die Bedingungen der Theilnahme an der basile[i]a ton ouranon auseinandersetzt, wie in der Bergrede, da hebt er nicht die Beobachtung der mosai- schen Ritualvorschriften, sondern den innern Geist der Religiosität und Sittlichkeit hervor; dem Fasten, Beten, Almosengeben, schreibt er blos in Verbindung mit entspre- chender Richtung des Gemüths einen Werth zu (Matth. 6, 1--18); die beiden Hauptbestandtheile des mosaischen Cultus, den Opferdienst und die Fest- und Sabbatsfeier empfiehlt er nicht nur nirgends ausdrücklich, sondern stellt sogar den erstern merklich zurück, indem er einen grammateus, der von herzlicher Gottes- und Nächstenliebe erklärt hatte, sie sei pleion panton ton olokautomaton kai thusion, lobend für einen solchen erklärte, welcher ou ma- kran apo tes basileias tou theou sei (Marc. 12, 33 f.) 2); gegen die damals übliche Sabbatsfeier aber hat Jesus mehr als einmal sowohl faktisch verstossen, als ausdrücklich sich erklärt (Matth. 12, 1--13. Marc. 2, 23--28. 3, 1--5. Luc. 6, 1--10. 13, 10 ff. 14, 1 ff. Joh. 5, 5 ff. 7, 22 f. 9, 1 ff.), und sich als dem uios tou anthropou die Macht über den Sabbat zugeschrieben; wie denn die Juden vom Messias eine Revision des mosaischen Gesetzes erwartet zu haben scheinen 3). Überhaupt kann man sagen: wer einmal wie 1) Wie Reinhard, Plan Jesu, S. 14 ff. 2) Eine Übertreibung des Ebionitenevangeliums s. bei Epipha- nius, haer. 30, 16. 3) Bertholdt, a. a. O. §. 31.
Viertes Kapitel. §. 63. des Stifters die Abschaffung des Mosaismus gelegen habe,und je höher durch eine solche Erhebung über den engen Gesichtskreis des jüdischen Ceremonialdienstes Jesus zu stehen kommt, desto mehr haben sich von jeher die Apo- logeten angelegen sein lassen, den Beweiſs dafür zu füh- ren 1). Auch fehlt es keineswegs an Aussprüchen und Handlungen Jesu, welche unverkennkar dahin zu deuten scheinen. Wo immer er die Bedingungen der Theilnahme an der βασιλε[ί]α τῶν οὐρανῶν auseinandersetzt, wie in der Bergrede, da hebt er nicht die Beobachtung der mosai- schen Ritualvorschriften, sondern den innern Geist der Religiosität und Sittlichkeit hervor; dem Fasten, Beten, Almosengeben, schreibt er blos in Verbindung mit entspre- chender Richtung des Gemüths einen Werth zu (Matth. 6, 1—18); die beiden Hauptbestandtheile des mosaischen Cultus, den Opferdienst und die Fest- und Sabbatsfeier empfiehlt er nicht nur nirgends ausdrücklich, sondern stellt sogar den erstern merklich zurück, indem er einen γραμματεὺς, der von herzlicher Gottes- und Nächstenliebe erklärt hatte, sie sei πλεῖον πάντων τῶν ὁλοκαυτωμάτων καὶ ϑυσιῶν, lobend für einen solchen erklärte, welcher οὐ μα- κρὰν ἀπὸ τῆς βασιλείας τοῦ ϑεοῦ sei (Marc. 12, 33 f.) 2); gegen die damals übliche Sabbatsfeier aber hat Jesus mehr als einmal sowohl faktisch verstoſsen, als ausdrücklich sich erklärt (Matth. 12, 1—13. Marc. 2, 23—28. 3, 1—5. Luc. 6, 1—10. 13, 10 ff. 14, 1 ff. Joh. 5, 5 ff. 7, 22 f. 9, 1 ff.), und sich als dem υἱὸς τοῦ ἀνϑρώπου die Macht über den Sabbat zugeschrieben; wie denn die Juden vom Messias eine Revision des mosaischen Gesetzes erwartet zu haben scheinen 3). Überhaupt kann man sagen: wer einmal wie 1) Wie Reinhard, Plan Jesu, S. 14 ff. 2) Eine Übertreibung des Ebionitenevangeliums s. bei Epipha- nius, haer. 30, 16. 3) Bertholdt, a. a. O. §. 31.
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Viertes Kapitel. §. 63.
des Stifters die Abschaffung des Mosaismus gelegen habe,
und je höher durch eine solche Erhebung über den engen
Gesichtskreis des jüdischen Ceremonialdienstes Jesus zu
stehen kommt, desto mehr haben sich von jeher die Apo-
logeten angelegen sein lassen, den Beweiſs dafür zu füh-
ren 1). Auch fehlt es keineswegs an Aussprüchen und
Handlungen Jesu, welche unverkennkar dahin zu deuten
scheinen. Wo immer er die Bedingungen der Theilnahme
an der βασιλεία τῶν οὐρανῶν auseinandersetzt, wie in der
Bergrede, da hebt er nicht die Beobachtung der mosai-
schen Ritualvorschriften, sondern den innern Geist der
Religiosität und Sittlichkeit hervor; dem Fasten, Beten,
Almosengeben, schreibt er blos in Verbindung mit entspre-
chender Richtung des Gemüths einen Werth zu (Matth.
6, 1—18); die beiden Hauptbestandtheile des mosaischen
Cultus, den Opferdienst und die Fest- und Sabbatsfeier
empfiehlt er nicht nur nirgends ausdrücklich, sondern
stellt sogar den erstern merklich zurück, indem er einen
γραμματεὺς, der von herzlicher Gottes- und Nächstenliebe
erklärt hatte, sie sei πλεῖον πάντων τῶν ὁλοκαυτωμάτων καὶ
ϑυσιῶν, lobend für einen solchen erklärte, welcher οὐ μα-
κρὰν ἀπὸ τῆς βασιλείας τοῦ ϑεοῦ sei (Marc. 12, 33 f.) 2);
gegen die damals übliche Sabbatsfeier aber hat Jesus mehr
als einmal sowohl faktisch verstoſsen, als ausdrücklich sich
erklärt (Matth. 12, 1—13. Marc. 2, 23—28. 3, 1—5. Luc.
6, 1—10. 13, 10 ff. 14, 1 ff. Joh. 5, 5 ff. 7, 22 f. 9, 1 ff.),
und sich als dem υἱὸς τοῦ ἀνϑρώπου die Macht über den
Sabbat zugeschrieben; wie denn die Juden vom Messias
eine Revision des mosaischen Gesetzes erwartet zu haben
scheinen 3). Überhaupt kann man sagen: wer einmal wie
1) Wie Reinhard, Plan Jesu, S. 14 ff.
2) Eine Übertreibung des Ebionitenevangeliums s. bei Epipha-
nius, haer. 30, 16.
3) Bertholdt, a. a. O. §. 31.
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