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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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Zweiter Abschnitt.
Jesus den alleinigen Werth des Innern gegenüber vom
Äussern, der Gesammtheit der Gesinnung im Vergleich mit
der von derselben losgerissenen einzelnen Handlung in der
Art erkannt hat, dass er die Gottes- und Nächstenliebe
für das Wesentliche des Gesetzes erklärt (Matth. 22, 36 ff.),
dem kann nicht verborgen bleiben, dass ebendamit dasjenige
im Gesez, was auf diese beiden Punkte sich nicht bezieht,
als Unwesentliches bestimmt ist. Ganz entschieden aber
scheint die Aussicht Jesu auf Abschaffung des mosaischen
Cultus in den Aussprüchen enthalten zu sein, dass der
Mittelpunkt desselben, der Tempel in Jerusalem, zerstört,
(Matth. 24, 2 parall.) und die Gottesverehrung künftig an
keinen Ort mehr gebunden, eine rein geistige sein werde
(Joh. 4, 21 ff.)

Indess alles diess ist doch nur die eine Seite der Stel-
lung, welche Jesus sich zum mosaischen Gesetze gab, in-
dem sich ebenso Data finden, welche zu beweisen schei-
nen, dass er an einen Umsturz der alten Religionsver-
fassung seines Volkes nicht gedacht habe; eine Seite, wel-
che früher, aus leicht denkbaren Gründen, vorzugsweise
von Gegnern des Christenthums in seiner kirchlichen Form
ausgeführt 4), und erst neuerlich, bei erweitertem theolo-
gischen Gesichtskreis, auch von unbefangenen kirchlichen
Auslegern anerkannt worden ist 5). Im Leben vorerst
bleibt Jesus dem väterlichen Gesetze treu: er besucht am
Sabbat die Synagoge, reist zur Festzeit nach Jerusalem
und isst an Ostern mit seinen Jüngern das Paschalamm.
Wenn er am Sabbat heilt oder seine Schüler Ähren aus-
raufen lässt (Matth. 12, 1 ff.), wenn er in seiner Gesell-
schaft keine Fasten und keine Waschungen vor Tische ein-
führt (Matth. 9, 14. 15, 2): so war diess nicht gegen das
mosaische Gesez, welches nur Enthaltung von gemeiner

4) Auch diess am bündigsten vom Wolfenbüttler Fragmentisten,
von dem Zweck u. s. f. S. 66 ff.
5) Vorzüglich von Fritzsche, in Matth. S. 214.

Zweiter Abschnitt.
Jesus den alleinigen Werth des Innern gegenüber vom
Äussern, der Gesammtheit der Gesinnung im Vergleich mit
der von derselben losgerissenen einzelnen Handlung in der
Art erkannt hat, daſs er die Gottes- und Nächstenliebe
für das Wesentliche des Gesetzes erklärt (Matth. 22, 36 ff.),
dem kann nicht verborgen bleiben, daſs ebendamit dasjenige
im Gesez, was auf diese beiden Punkte sich nicht bezieht,
als Unwesentliches bestimmt ist. Ganz entschieden aber
scheint die Aussicht Jesu auf Abschaffung des mosaischen
Cultus in den Aussprüchen enthalten zu sein, daſs der
Mittelpunkt desselben, der Tempel in Jerusalem, zerstört,
(Matth. 24, 2 parall.) und die Gottesverehrung künftig an
keinen Ort mehr gebunden, eine rein geistige sein werde
(Joh. 4, 21 ff.)

Indeſs alles dieſs ist doch nur die eine Seite der Stel-
lung, welche Jesus sich zum mosaischen Gesetze gab, in-
dem sich ebenso Data finden, welche zu beweisen schei-
nen, daſs er an einen Umsturz der alten Religionsver-
fassung seines Volkes nicht gedacht habe; eine Seite, wel-
che früher, aus leicht denkbaren Gründen, vorzugsweise
von Gegnern des Christenthums in seiner kirchlichen Form
ausgeführt 4), und erst neuerlich, bei erweitertem theolo-
gischen Gesichtskreis, auch von unbefangenen kirchlichen
Auslegern anerkannt worden ist 5). Im Leben vorerst
bleibt Jesus dem väterlichen Gesetze treu: er besucht am
Sabbat die Synagoge, reist zur Festzeit nach Jerusalem
und iſst an Ostern mit seinen Jüngern das Paschalamm.
Wenn er am Sabbat heilt oder seine Schüler Ähren aus-
raufen läſst (Matth. 12, 1 ff.), wenn er in seiner Gesell-
schaft keine Fasten und keine Waschungen vor Tische ein-
führt (Matth. 9, 14. 15, 2): so war dieſs nicht gegen das
mosaische Gesez, welches nur Enthaltung von gemeiner

4) Auch diess am bündigsten vom Wolfenbüttler Fragmentisten,
von dem Zweck u. s. f. S. 66 ff.
5) Vorzüglich von Fritzsche, in Matth. S. 214.
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[496/0520] Zweiter Abschnitt. Jesus den alleinigen Werth des Innern gegenüber vom Äussern, der Gesammtheit der Gesinnung im Vergleich mit der von derselben losgerissenen einzelnen Handlung in der Art erkannt hat, daſs er die Gottes- und Nächstenliebe für das Wesentliche des Gesetzes erklärt (Matth. 22, 36 ff.), dem kann nicht verborgen bleiben, daſs ebendamit dasjenige im Gesez, was auf diese beiden Punkte sich nicht bezieht, als Unwesentliches bestimmt ist. Ganz entschieden aber scheint die Aussicht Jesu auf Abschaffung des mosaischen Cultus in den Aussprüchen enthalten zu sein, daſs der Mittelpunkt desselben, der Tempel in Jerusalem, zerstört, (Matth. 24, 2 parall.) und die Gottesverehrung künftig an keinen Ort mehr gebunden, eine rein geistige sein werde (Joh. 4, 21 ff.) Indeſs alles dieſs ist doch nur die eine Seite der Stel- lung, welche Jesus sich zum mosaischen Gesetze gab, in- dem sich ebenso Data finden, welche zu beweisen schei- nen, daſs er an einen Umsturz der alten Religionsver- fassung seines Volkes nicht gedacht habe; eine Seite, wel- che früher, aus leicht denkbaren Gründen, vorzugsweise von Gegnern des Christenthums in seiner kirchlichen Form ausgeführt 4), und erst neuerlich, bei erweitertem theolo- gischen Gesichtskreis, auch von unbefangenen kirchlichen Auslegern anerkannt worden ist 5). Im Leben vorerst bleibt Jesus dem väterlichen Gesetze treu: er besucht am Sabbat die Synagoge, reist zur Festzeit nach Jerusalem und iſst an Ostern mit seinen Jüngern das Paschalamm. Wenn er am Sabbat heilt oder seine Schüler Ähren aus- raufen läſst (Matth. 12, 1 ff.), wenn er in seiner Gesell- schaft keine Fasten und keine Waschungen vor Tische ein- führt (Matth. 9, 14. 15, 2): so war dieſs nicht gegen das mosaische Gesez, welches nur Enthaltung von gemeiner 4) Auch diess am bündigsten vom Wolfenbüttler Fragmentisten, von dem Zweck u. s. f. S. 66 ff. 5) Vorzüglich von Fritzsche, in Matth. S. 214.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 496. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/520>, abgerufen am 22.11.2024.