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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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Zweiter Abschnitt.
Heiden tauften, ohne ihnen die Last des mosaischen Ge-
setzes aufzulegen, wenigstens durch keine Berufung auf
ausdrückliche Erklärungen Jesu zurückzuweisen (A. G. 15.).

Diesen scheinbaren Widerspruch in dem Benehmen
und den Äusserungen Jesu hat man von apologetischem In-
teresse aus in der Art lösen zu können geglaubt, dass man
nicht blos die eigene Gesetzbeobachtung Jesu, sondern auch
seine Erklärungen zu Gunsten des Gesetzes als nothwen-
dige Accommodation an seine Volksgenossen fasste, welche
ihm ihr Vertrauen sogleich entzogen haben würden, wenn
er sich als Zerstörer des heilig geachteten Gesetzes ange-
kündigt hätte 10). Hieraus liesse sich wirklich das, dass
Jesus für seine Person das Gesez beobachtete, so gut er-
klären, als das gesezliche Leben des Apostels Paulus un-
ter Juden nach seiner eigenen Erklärung blosse Anbeque-
mung war (1. Kor. 9, 20. vgl. A. G. 16, 3.). Aber die
starken Versicherungen über die Unvergänglichkeit des Ge-
setzes und die Schuld dessen, der auch nur das kleinste
Gebot desselben aufzulösen sich erkühne, lassen sich aus
blosser Accommodation unmöglich ableiten; denn für un-
entbehrlich erklären, was man doch für überflüssig hält,
und selbst nach und nach in Abgang zu bringen wünscht,
würde neben der Unredlichkeit zugleich allzu unklug ge-
handelt sein.

Daher haben Andre den Unterschied des Moralischen
und Ritualen geltend gemacht, und die Erklärung Jesu,
das Gesez nicht aufheben zu wollen, nur auf das erstere
bezogen, welches er durch reinere Herausarbeitung aus dem
blos Ceremoniellen zu vervollkommnen (plerosai) gestrebt
habe 11). Allein eine solche Unterscheidung liegt in der
betreffenden Stelle der Bergrede keineswegs; vielmehr ist

10) Reinhard, a. a. O. S. 15 ff. Planck, Geschichte des Chri-
stenthums in der Periode seiner Einführung, 1, S. 175 ff.
11) de Wette, bibl. Dogm. §. 210.

Zweiter Abschnitt.
Heiden tauften, ohne ihnen die Last des mosaischen Ge-
setzes aufzulegen, wenigstens durch keine Berufung auf
ausdrückliche Erklärungen Jesu zurückzuweisen (A. G. 15.).

Diesen scheinbaren Widerspruch in dem Benehmen
und den Äusserungen Jesu hat man von apologetischem In-
teresse aus in der Art lösen zu können geglaubt, daſs man
nicht blos die eigene Gesetzbeobachtung Jesu, sondern auch
seine Erklärungen zu Gunsten des Gesetzes als nothwen-
dige Accommodation an seine Volksgenossen faſste, welche
ihm ihr Vertrauen sogleich entzogen haben würden, wenn
er sich als Zerstörer des heilig geachteten Gesetzes ange-
kündigt hätte 10). Hieraus lieſse sich wirklich das, daſs
Jesus für seine Person das Gesez beobachtete, so gut er-
klären, als das gesezliche Leben des Apostels Paulus un-
ter Juden nach seiner eigenen Erklärung bloſse Anbeque-
mung war (1. Kor. 9, 20. vgl. A. G. 16, 3.). Aber die
starken Versicherungen über die Unvergänglichkeit des Ge-
setzes und die Schuld dessen, der auch nur das kleinste
Gebot desselben aufzulösen sich erkühne, lassen sich aus
bloſser Accommodation unmöglich ableiten; denn für un-
entbehrlich erklären, was man doch für überflüssig hält,
und selbst nach und nach in Abgang zu bringen wünscht,
würde neben der Unredlichkeit zugleich allzu unklug ge-
handelt sein.

Daher haben Andre den Unterschied des Moralischen
und Ritualen geltend gemacht, und die Erklärung Jesu,
das Gesez nicht aufheben zu wollen, nur auf das erstere
bezogen, welches er durch reinere Herausarbeitung aus dem
blos Ceremoniellen zu vervollkommnen (πληρῶσαι) gestrebt
habe 11). Allein eine solche Unterscheidung liegt in der
betreffenden Stelle der Bergrede keineswegs; vielmehr ist

10) Reinhard, a. a. O. S. 15 ff. Planck, Geschichte des Chri-
stenthums in der Periode seiner Einführung, 1, S. 175 ff.
11) de Wette, bibl. Dogm. §. 210.
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[498/0522] Zweiter Abschnitt. Heiden tauften, ohne ihnen die Last des mosaischen Ge- setzes aufzulegen, wenigstens durch keine Berufung auf ausdrückliche Erklärungen Jesu zurückzuweisen (A. G. 15.). Diesen scheinbaren Widerspruch in dem Benehmen und den Äusserungen Jesu hat man von apologetischem In- teresse aus in der Art lösen zu können geglaubt, daſs man nicht blos die eigene Gesetzbeobachtung Jesu, sondern auch seine Erklärungen zu Gunsten des Gesetzes als nothwen- dige Accommodation an seine Volksgenossen faſste, welche ihm ihr Vertrauen sogleich entzogen haben würden, wenn er sich als Zerstörer des heilig geachteten Gesetzes ange- kündigt hätte 10). Hieraus lieſse sich wirklich das, daſs Jesus für seine Person das Gesez beobachtete, so gut er- klären, als das gesezliche Leben des Apostels Paulus un- ter Juden nach seiner eigenen Erklärung bloſse Anbeque- mung war (1. Kor. 9, 20. vgl. A. G. 16, 3.). Aber die starken Versicherungen über die Unvergänglichkeit des Ge- setzes und die Schuld dessen, der auch nur das kleinste Gebot desselben aufzulösen sich erkühne, lassen sich aus bloſser Accommodation unmöglich ableiten; denn für un- entbehrlich erklären, was man doch für überflüssig hält, und selbst nach und nach in Abgang zu bringen wünscht, würde neben der Unredlichkeit zugleich allzu unklug ge- handelt sein. Daher haben Andre den Unterschied des Moralischen und Ritualen geltend gemacht, und die Erklärung Jesu, das Gesez nicht aufheben zu wollen, nur auf das erstere bezogen, welches er durch reinere Herausarbeitung aus dem blos Ceremoniellen zu vervollkommnen (πληρῶσαι) gestrebt habe 11). Allein eine solche Unterscheidung liegt in der betreffenden Stelle der Bergrede keineswegs; vielmehr ist 10) Reinhard, a. a. O. S. 15 ff. Planck, Geschichte des Chri- stenthums in der Periode seiner Einführung, 1, S. 175 ff. 11) de Wette, bibl. Dogm. §. 210.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 498. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/522>, abgerufen am 16.07.2024.