den Jüngern diesen Grund angeben, und nicht durch den andern, welchen er vorschiebt, ihren ohnehin schon star- ken Partikularismus bekräftigen. Eher liesse sich daher das Andre hören, Jesus habe den Glauben der Frau durch die anfängliche Weigerung nur prüfen und zur Äusserung sei- ner ganzen Stärke veranlassen wollen 4): wenn nur im Text eine Spur von blosser Verstellung, und nicht viel- mehr die Kennzeichen einer wirklichen Umstimmung 5) lägen, wie auch Markus die Geschichte verstanden haben muss; denn hätte er an blosse Prüfung gedacht, so würde er wohl durch einen Zusaz wie touto de elege peirazon auten (vrgl. Joh. 6, 6.) den Anstoss gemildert haben, statt dass er jezt nichts Anderes zu machen weiss, als den anstössi- gen Ausspruch geradehin wegzulassen. Es scheint also hier Jesus die Abneigung seiner Volksgenossen gegen Heiden zu theilen; ja diese erscheint diessmal in ihm selbst stär- ker ausgeprägt, als in seinen Jüngern, wenn nicht anders deren Fürsprache für die Frau nur ein Zug der Contraste und Gruppen suchenden Sage ist.
Freilich wird diese Geschichte beinahe unbrauchbar gemacht durch eine andere, wo Jesus ganz auf die ent- gegengesetzte Weise verfährt. Der Hauptmann von Ka- pernaum nämlich, gleichfalls ein Heide (wie aus dem oude en to Israel tosauten pisin euron erhellt), hat Jesu kaum eine ähnliche Noth wie jenes Weib geklagt, als er sich schon von selbst erbietet, zur Heilung seines Knechts in sein Haus zu kommen (Matth. 8, 5. ff). Findet hier Jesus so gar kein Bedenken darin, seine Heilkraft zu Gunsten eines Heiden zu verwenden: wie kommt es, muss man fragen, dass er in einem ganz analogen Falle sich so lange weigert, dasselbe zu thun? und zwar, wenn die Stellung der beiden Geschichten in den Evangelien irgend etwas
4)Olshausen, 1, S. 507.
5)Hase, a. a. O.
Zweiter Abschnitt.
den Jüngern diesen Grund angeben, und nicht durch den andern, welchen er vorschiebt, ihren ohnehin schon star- ken Partikularismus bekräftigen. Eher lieſse sich daher das Andre hören, Jesus habe den Glauben der Frau durch die anfängliche Weigerung nur prüfen und zur Äusserung sei- ner ganzen Stärke veranlassen wollen 4): wenn nur im Text eine Spur von bloſser Verstellung, und nicht viel- mehr die Kennzeichen einer wirklichen Umstimmung 5) lägen, wie auch Markus die Geschichte verstanden haben muſs; denn hätte er an bloſse Prüfung gedacht, so würde er wohl durch einen Zusaz wie τοῦτο δὲ ἔλεγε πειράζων αὐτὴν (vrgl. Joh. 6, 6.) den Anstoſs gemildert haben, statt daſs er jezt nichts Anderes zu machen weiſs, als den anstöſsi- gen Ausspruch geradehin wegzulassen. Es scheint also hier Jesus die Abneigung seiner Volksgenossen gegen Heiden zu theilen; ja diese erscheint dieſsmal in ihm selbst stär- ker ausgeprägt, als in seinen Jüngern, wenn nicht anders deren Fürsprache für die Frau nur ein Zug der Contraste und Gruppen suchenden Sage ist.
Freilich wird diese Geschichte beinahe unbrauchbar gemacht durch eine andere, wo Jesus ganz auf die ent- gegengesetzte Weise verfährt. Der Hauptmann von Ka- pernaum nämlich, gleichfalls ein Heide (wie aus dem οὐδὲ ἐν τῷ Ἰσραὴλ τοσαύτην πίςιν εὗρον erhellt), hat Jesu kaum eine ähnliche Noth wie jenes Weib geklagt, als er sich schon von selbst erbietet, zur Heilung seines Knechts in sein Haus zu kommen (Matth. 8, 5. ff). Findet hier Jesus so gar kein Bedenken darin, seine Heilkraft zu Gunsten eines Heiden zu verwenden: wie kommt es, muſs man fragen, daſs er in einem ganz analogen Falle sich so lange weigert, dasselbe zu thun? und zwar, wenn die Stellung der beiden Geschichten in den Evangelien irgend etwas
4)Olshausen, 1, S. 507.
5)Hase, a. a. O.
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Zweiter Abschnitt.
den Jüngern diesen Grund angeben, und nicht durch den
andern, welchen er vorschiebt, ihren ohnehin schon star-
ken Partikularismus bekräftigen. Eher lieſse sich daher das
Andre hören, Jesus habe den Glauben der Frau durch die
anfängliche Weigerung nur prüfen und zur Äusserung sei-
ner ganzen Stärke veranlassen wollen 4): wenn nur im
Text eine Spur von bloſser Verstellung, und nicht viel-
mehr die Kennzeichen einer wirklichen Umstimmung 5) lägen,
wie auch Markus die Geschichte verstanden haben muſs;
denn hätte er an bloſse Prüfung gedacht, so würde er
wohl durch einen Zusaz wie τοῦτο δὲ ἔλεγε πειράζων αὐτὴν
(vrgl. Joh. 6, 6.) den Anstoſs gemildert haben, statt daſs
er jezt nichts Anderes zu machen weiſs, als den anstöſsi-
gen Ausspruch geradehin wegzulassen. Es scheint also hier
Jesus die Abneigung seiner Volksgenossen gegen Heiden
zu theilen; ja diese erscheint dieſsmal in ihm selbst stär-
ker ausgeprägt, als in seinen Jüngern, wenn nicht anders
deren Fürsprache für die Frau nur ein Zug der Contraste
und Gruppen suchenden Sage ist.
Freilich wird diese Geschichte beinahe unbrauchbar
gemacht durch eine andere, wo Jesus ganz auf die ent-
gegengesetzte Weise verfährt. Der Hauptmann von Ka-
pernaum nämlich, gleichfalls ein Heide (wie aus dem οὐδὲ
ἐν τῷ Ἰσραὴλ τοσαύτην πίςιν εὗρον erhellt), hat Jesu kaum
eine ähnliche Noth wie jenes Weib geklagt, als er sich
schon von selbst erbietet, zur Heilung seines Knechts in
sein Haus zu kommen (Matth. 8, 5. ff). Findet hier Jesus
so gar kein Bedenken darin, seine Heilkraft zu Gunsten
eines Heiden zu verwenden: wie kommt es, muſs man
fragen, daſs er in einem ganz analogen Falle sich so lange
weigert, dasselbe zu thun? und zwar, wenn die Stellung
der beiden Geschichten in den Evangelien irgend etwas
4) Olshausen, 1, S. 507.
5) Hase, a. a. O.
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 504. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/528>, abgerufen am 22.11.2024.
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