Diese Frage ist nur dadurch einer Entscheidung ent- gegenzuführen, dass die Erzählung des vierten Evangeliums (K. 4) von dem Zusammentreffen Jesu mit der samaritanischen Frau und was sich daran schliesst, darauf angesehen wird, ob sie ein historisches Gepräge trägt oder nicht? Hier kön- nen wir zwar die Anstösse nicht finden, welche der Ver- fasser der Probabilien schon in der Bezeichnung der Lo- kalität und dem Anfang des Gesprächs Jesu mit der Frau nachweisen zu können glaubt 4): aber von V. 16. an thun sich auch nach dem Geständniss unparteiischer Ausleger 5) manche Schwierigkeiten hervor. Die Frau hatte zulezt Je- sum gebeten, ihr auch von dem Wasser zu geben, welches für immer den Durst lösche, und darauf sagt nun Jesus unmittelbar: upage, phoneson ton andra sou. Wozu diess? Die Ansicht, Jesus habe durch diese Frage, wohlwissend, dass sie keinen rechtmässigen Mann habe, die Frau nur be- schämen und zur Busse leiten wollen 6), weist Lücke ab, weil ihm solche Verstellung an Jesu nicht gefällt, und vermu- thet, wegen des Unverstands der Frau habe Jesus durch Berufung ihres vielleicht empfänglicheren Mannes sich Ge- legenheit zu einer gedeihlicheren Unterhaltung verschaffen wollen. Aber wenn doch Jesus, wie sich sogleich zeigt, wusste, dass das Weib im gegenwärtigen Zeitpunkt keinen eigentlichen Ehemann hatte, so konnte er nicht im Ernst die Herbeirufung desselben verlangen, und namentlich, wenn er, auch nach Lücke's Zugeständniss, diese Kunde auf über- natürliche Weise hatte, so konnte ihm, der auch sonst wusste, was im Menschen war, auch diess nicht verborgen sein, dass die Frau wenig geneigt sein werde, seiner Aufforde- rung zu entsprechen. Hat er aber vorausgewusst, dass das Verlangte nicht geschehen werde, ja selbst nicht ge-
4)Bretschneider, a. a. O. S. 47 ff. 97 f.
5)Lücke, 1, S. 520 ff.
6) so Tholuck z. d. St.
Viertes Kapitel. §. 65.
Diese Frage ist nur dadurch einer Entscheidung ent- gegenzuführen, daſs die Erzählung des vierten Evangeliums (K. 4) von dem Zusammentreffen Jesu mit der samaritanischen Frau und was sich daran schlieſst, darauf angesehen wird, ob sie ein historisches Gepräge trägt oder nicht? Hier kön- nen wir zwar die Anstöſse nicht finden, welche der Ver- fasser der Probabilien schon in der Bezeichnung der Lo- kalität und dem Anfang des Gesprächs Jesu mit der Frau nachweisen zu können glaubt 4): aber von V. 16. an thun sich auch nach dem Geständniſs unparteiischer Ausleger 5) manche Schwierigkeiten hervor. Die Frau hatte zulezt Je- sum gebeten, ihr auch von dem Wasser zu geben, welches für immer den Durst lösche, und darauf sagt nun Jesus unmittelbar: ὕπαγε, φώνησον τὸν ἄνδρα σου. Wozu dieſs? Die Ansicht, Jesus habe durch diese Frage, wohlwissend, daſs sie keinen rechtmäſsigen Mann habe, die Frau nur be- schämen und zur Buſse leiten wollen 6), weist Lücke ab, weil ihm solche Verstellung an Jesu nicht gefällt, und vermu- thet, wegen des Unverstands der Frau habe Jesus durch Berufung ihres vielleicht empfänglicheren Mannes sich Ge- legenheit zu einer gedeihlicheren Unterhaltung verschaffen wollen. Aber wenn doch Jesus, wie sich sogleich zeigt, wuſste, daſs das Weib im gegenwärtigen Zeitpunkt keinen eigentlichen Ehemann hatte, so konnte er nicht im Ernst die Herbeirufung desselben verlangen, und namentlich, wenn er, auch nach Lücke's Zugeständniſs, diese Kunde auf über- natürliche Weise hatte, so konnte ihm, der auch sonst wuſste, was im Menschen war, auch dieſs nicht verborgen sein, daſs die Frau wenig geneigt sein werde, seiner Aufforde- rung zu entsprechen. Hat er aber vorausgewuſst, daſs das Verlangte nicht geschehen werde, ja selbst nicht ge-
4)Bretschneider, a. a. O. S. 47 ff. 97 f.
5)Lücke, 1, S. 520 ff.
6) so Tholuck z. d. St.
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Viertes Kapitel. §. 65.
Diese Frage ist nur dadurch einer Entscheidung ent-
gegenzuführen, daſs die Erzählung des vierten Evangeliums
(K. 4) von dem Zusammentreffen Jesu mit der samaritanischen
Frau und was sich daran schlieſst, darauf angesehen wird,
ob sie ein historisches Gepräge trägt oder nicht? Hier kön-
nen wir zwar die Anstöſse nicht finden, welche der Ver-
fasser der Probabilien schon in der Bezeichnung der Lo-
kalität und dem Anfang des Gesprächs Jesu mit der Frau
nachweisen zu können glaubt 4): aber von V. 16. an thun
sich auch nach dem Geständniſs unparteiischer Ausleger 5)
manche Schwierigkeiten hervor. Die Frau hatte zulezt Je-
sum gebeten, ihr auch von dem Wasser zu geben, welches
für immer den Durst lösche, und darauf sagt nun Jesus
unmittelbar: ὕπαγε, φώνησον τὸν ἄνδρα σου. Wozu dieſs?
Die Ansicht, Jesus habe durch diese Frage, wohlwissend,
daſs sie keinen rechtmäſsigen Mann habe, die Frau nur be-
schämen und zur Buſse leiten wollen 6), weist Lücke ab, weil
ihm solche Verstellung an Jesu nicht gefällt, und vermu-
thet, wegen des Unverstands der Frau habe Jesus durch
Berufung ihres vielleicht empfänglicheren Mannes sich Ge-
legenheit zu einer gedeihlicheren Unterhaltung verschaffen
wollen. Aber wenn doch Jesus, wie sich sogleich zeigt,
wuſste, daſs das Weib im gegenwärtigen Zeitpunkt keinen
eigentlichen Ehemann hatte, so konnte er nicht im Ernst
die Herbeirufung desselben verlangen, und namentlich, wenn
er, auch nach Lücke's Zugeständniſs, diese Kunde auf über-
natürliche Weise hatte, so konnte ihm, der auch sonst wuſste,
was im Menschen war, auch dieſs nicht verborgen sein,
daſs die Frau wenig geneigt sein werde, seiner Aufforde-
rung zu entsprechen. Hat er aber vorausgewuſst, daſs
das Verlangte nicht geschehen werde, ja selbst nicht ge-
4) Bretschneider, a. a. O. S. 47 ff. 97 f.
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6) so Tholuck z. d. St.
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 511. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/535>, abgerufen am 22.11.2024.
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