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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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Zweiter Abschnitt.
schehen könne: so war auch die Aufforderung nur eine
verstellte, und hatte nicht die Herbeischaffung des Mannes,
sondern etwas ganz Anderes zum Zwecke. Dass aber diess
die Busse der Frau gewesen wäre, davon liegt in der Er-
zählung nichts; denn als endliche Wirkung auf die Frau
tritt keineswegs Beschämung und Reue, sondern Glaube an
den prophetischen Blick Jesu hervor (V. 19.), und diess
wird auch die Absicht Jesu gewesen sein, denn die Erzäh-
lung ist so gehalten, wie wenn ihm sein Vorhaben mit der
Frau gelungen, also der Erfolg mit der Absicht zusammen-
getroffen wäre. Hiebei ist indessen nicht sowohl das anstös-
sig, was Lücke Verstellung nennt, da diese ganz unter die
Kategorie des auch sonst vorkommenden unverfänglichen
peirazein fällt, als vielmehr die Gewaltsamkeit, mit welcher
Jesus die Gelegenheit, sich in seiner prophetischen Gabe zu
zeigen, selber macht.

Mit derselben Gewaltsamkeit muss hernach die Frau
das Gespräch auf einen Punkt hintreiben, an welchem auch
vollends die Messianität Jesu offenbar werden kann. So-
bald sie nämlich Jesum als einen Propheten erkannt hat,
eilt sie sogleich, ihn über die zwischen Juden und Samari-
tern obschwebende Streitfrage rücksichtlich des Ortes der
wahren Gottesverehrung zu consultiren (V. 20). Dass ein so
starkes Interesse an dieser religiös-nationalen Frage zu dem
sonstigen beschränkten Wesen der Frau nicht passe, des-
sen sind die meisten jetzigen Erklärer durch die Annahme
geständig, sie habe, weil sie sich durch die Äusserung Je-
su über ihre ehlichen Verhältnisse getroffen fühlte, durch
jene Wendung nur das Gespräch von dem ihr empfindlichen
Punkte ablenken wollen 7). War hienach die Frage nach
dem rechten Ort des Gottesdienstes dem Weibe nicht ernst,
sondern lag derselben nur falsche Scham, welche sich dem
Bekenntniss und der Busse entziehen will, zum Grunde:

7) So Lücke und Tholuck z. d. St., Hase, L. J. §. 60.

Zweiter Abschnitt.
schehen könne: so war auch die Aufforderung nur eine
verstellte, und hatte nicht die Herbeischaffung des Mannes,
sondern etwas ganz Anderes zum Zwecke. Daſs aber dieſs
die Buſse der Frau gewesen wäre, davon liegt in der Er-
zählung nichts; denn als endliche Wirkung auf die Frau
tritt keineswegs Beschämung und Reue, sondern Glaube an
den prophetischen Blick Jesu hervor (V. 19.), und dieſs
wird auch die Absicht Jesu gewesen sein, denn die Erzäh-
lung ist so gehalten, wie wenn ihm sein Vorhaben mit der
Frau gelungen, also der Erfolg mit der Absicht zusammen-
getroffen wäre. Hiebei ist indessen nicht sowohl das anstös-
sig, was Lücke Verstellung nennt, da diese ganz unter die
Kategorie des auch sonst vorkommenden unverfänglichen
πειράζειν fällt, als vielmehr die Gewaltsamkeit, mit welcher
Jesus die Gelegenheit, sich in seiner prophetischen Gabe zu
zeigen, selber macht.

Mit derselben Gewaltsamkeit muſs hernach die Frau
das Gespräch auf einen Punkt hintreiben, an welchem auch
vollends die Messianität Jesu offenbar werden kann. So-
bald sie nämlich Jesum als einen Propheten erkannt hat,
eilt sie sogleich, ihn über die zwischen Juden und Samari-
tern obschwebende Streitfrage rücksichtlich des Ortes der
wahren Gottesverehrung zu consultiren (V. 20). Daſs ein so
starkes Interesse an dieser religiös-nationalen Frage zu dem
sonstigen beschränkten Wesen der Frau nicht passe, des-
sen sind die meisten jetzigen Erklärer durch die Annahme
geständig, sie habe, weil sie sich durch die Äusserung Je-
su über ihre ehlichen Verhältnisse getroffen fühlte, durch
jene Wendung nur das Gespräch von dem ihr empfindlichen
Punkte ablenken wollen 7). War hienach die Frage nach
dem rechten Ort des Gottesdienstes dem Weibe nicht ernst,
sondern lag derselben nur falsche Scham, welche sich dem
Bekenntniſs und der Buſse entziehen will, zum Grunde:

7) So Lücke und Tholuck z. d. St., Hase, L. J. §. 60.
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[512/0536] Zweiter Abschnitt. schehen könne: so war auch die Aufforderung nur eine verstellte, und hatte nicht die Herbeischaffung des Mannes, sondern etwas ganz Anderes zum Zwecke. Daſs aber dieſs die Buſse der Frau gewesen wäre, davon liegt in der Er- zählung nichts; denn als endliche Wirkung auf die Frau tritt keineswegs Beschämung und Reue, sondern Glaube an den prophetischen Blick Jesu hervor (V. 19.), und dieſs wird auch die Absicht Jesu gewesen sein, denn die Erzäh- lung ist so gehalten, wie wenn ihm sein Vorhaben mit der Frau gelungen, also der Erfolg mit der Absicht zusammen- getroffen wäre. Hiebei ist indessen nicht sowohl das anstös- sig, was Lücke Verstellung nennt, da diese ganz unter die Kategorie des auch sonst vorkommenden unverfänglichen πειράζειν fällt, als vielmehr die Gewaltsamkeit, mit welcher Jesus die Gelegenheit, sich in seiner prophetischen Gabe zu zeigen, selber macht. Mit derselben Gewaltsamkeit muſs hernach die Frau das Gespräch auf einen Punkt hintreiben, an welchem auch vollends die Messianität Jesu offenbar werden kann. So- bald sie nämlich Jesum als einen Propheten erkannt hat, eilt sie sogleich, ihn über die zwischen Juden und Samari- tern obschwebende Streitfrage rücksichtlich des Ortes der wahren Gottesverehrung zu consultiren (V. 20). Daſs ein so starkes Interesse an dieser religiös-nationalen Frage zu dem sonstigen beschränkten Wesen der Frau nicht passe, des- sen sind die meisten jetzigen Erklärer durch die Annahme geständig, sie habe, weil sie sich durch die Äusserung Je- su über ihre ehlichen Verhältnisse getroffen fühlte, durch jene Wendung nur das Gespräch von dem ihr empfindlichen Punkte ablenken wollen 7). War hienach die Frage nach dem rechten Ort des Gottesdienstes dem Weibe nicht ernst, sondern lag derselben nur falsche Scham, welche sich dem Bekenntniſs und der Buſse entziehen will, zum Grunde: 7) So Lücke und Tholuck z. d. St., Hase, L. J. §. 60.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 512. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/536>, abgerufen am 22.11.2024.