so sollten jene Ausleger sich doch an das erinnern, was sie sonst bis zum Überdruss wiederholen 8), dass Jesus bei Jo- hannes) in seinen Antworten durchaus nicht sowohl auf den ausdrücklichen Sinn der Fragen, als auf die dabei zum Grunde liegende Gesinnung Rücksicht nehme. Dieser Me- thode zufolge durfte er die nicht ernstlich gemeinte Frage der Frau nicht im höchsten Ernst beantworten, sondern musste mit Umgehung derselben auf den zuvor schon getrof- fenen empfindlichen Fleck im Bewusstsein der Frau, den sie jezt zu verdecken suchte, losarbeiten, um sie womög- lich zum vollen Gefühl und offenen Bekenntniss ihrer Schuld zu bringen. Aber dem Referenten ist es einmal darum zu thun, Jesum hier nicht blos als Propheten, sondern be- stimmt als Messias anerkannt werden zu lassen, und diess glaubte er am besten durch die Lenkung des Gesprächs auf die Frage nach dem wahren Orte der Gottesverehrung, deren Lösung man vom Messias erwartete (V. 25.) 9), her- beiführen zu können.
Die Kenntniss, welche V. 17 f. Jesus von den Verhält- nissen des Weibes zeigt, hat man natürlich zu erklären ge- sucht durch die Voraussetzung, dass, während Jesus am Brunnen sass und die Frau aus dem Städtchen daherge- gangen kam, ihm ein Vorübergehender einen Wink gegeben habe, sich mit ihr, als einer solchen, die jezt nach dem sechsten Manne trachte, nicht einzulassen 10). Allein neben dem Unwahrscheinlichen, dass ein Vorübergehender nichts Angelegeneres mit Jesu zu sprechen gehabt haben sollte, als ihn von den Verhältnissen eines unbedeutenden Weibes zu unterrichten, stimmen jezt Freunde wie Gegner des vierten Evangeliums darin überein, dass jede natürliche Er- klärung jener Kunde Jesu der Absicht des Referenten ge-
8) s. Tholuck, S. 77. 121. 141. 155.
9) vgl. Schöttgen, horae, 1, S. 970 f. Wetstein, S. 863.
10)Paulus, Leben Jesu, 1, a, 187; Comment. 4, z. d. St.
Das Leben Jesu I. Band. 33
Viertes Kapitel. §. 65.
so sollten jene Ausleger sich doch an das erinnern, was sie sonst bis zum Überdruſs wiederholen 8), daſs Jesus bei Jo- hannes) in seinen Antworten durchaus nicht sowohl auf den ausdrücklichen Sinn der Fragen, als auf die dabei zum Grunde liegende Gesinnung Rücksicht nehme. Dieser Me- thode zufolge durfte er die nicht ernstlich gemeinte Frage der Frau nicht im höchsten Ernst beantworten, sondern muſste mit Umgehung derselben auf den zuvor schon getrof- fenen empfindlichen Fleck im Bewuſstsein der Frau, den sie jezt zu verdecken suchte, losarbeiten, um sie womög- lich zum vollen Gefühl und offenen Bekenntniſs ihrer Schuld zu bringen. Aber dem Referenten ist es einmal darum zu thun, Jesum hier nicht blos als Propheten, sondern be- stimmt als Messias anerkannt werden zu lassen, und dieſs glaubte er am besten durch die Lenkung des Gesprächs auf die Frage nach dem wahren Orte der Gottesverehrung, deren Lösung man vom Messias erwartete (V. 25.) 9), her- beiführen zu können.
Die Kenntniſs, welche V. 17 f. Jesus von den Verhält- nissen des Weibes zeigt, hat man natürlich zu erklären ge- sucht durch die Voraussetzung, daſs, während Jesus am Brunnen saſs und die Frau aus dem Städtchen daherge- gangen kam, ihm ein Vorübergehender einen Wink gegeben habe, sich mit ihr, als einer solchen, die jezt nach dem sechsten Manne trachte, nicht einzulassen 10). Allein neben dem Unwahrscheinlichen, daſs ein Vorübergehender nichts Angelegeneres mit Jesu zu sprechen gehabt haben sollte, als ihn von den Verhältnissen eines unbedeutenden Weibes zu unterrichten, stimmen jezt Freunde wie Gegner des vierten Evangeliums darin überein, daſs jede natürliche Er- klärung jener Kunde Jesu der Absicht des Referenten ge-
8) s. Tholuck, S. 77. 121. 141. 155.
9) vgl. Schöttgen, horae, 1, S. 970 f. Wetstein, S. 863.
10)Paulus, Leben Jesu, 1, a, 187; Comment. 4, z. d. St.
Das Leben Jesu I. Band. 33
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Viertes Kapitel. §. 65.
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hannes) in seinen Antworten durchaus nicht sowohl auf
den ausdrücklichen Sinn der Fragen, als auf die dabei zum
Grunde liegende Gesinnung Rücksicht nehme. Dieser Me-
thode zufolge durfte er die nicht ernstlich gemeinte Frage
der Frau nicht im höchsten Ernst beantworten, sondern
muſste mit Umgehung derselben auf den zuvor schon getrof-
fenen empfindlichen Fleck im Bewuſstsein der Frau, den
sie jezt zu verdecken suchte, losarbeiten, um sie womög-
lich zum vollen Gefühl und offenen Bekenntniſs ihrer Schuld
zu bringen. Aber dem Referenten ist es einmal darum zu
thun, Jesum hier nicht blos als Propheten, sondern be-
stimmt als Messias anerkannt werden zu lassen, und dieſs
glaubte er am besten durch die Lenkung des Gesprächs
auf die Frage nach dem wahren Orte der Gottesverehrung,
deren Lösung man vom Messias erwartete (V. 25.) 9), her-
beiführen zu können.
Die Kenntniſs, welche V. 17 f. Jesus von den Verhält-
nissen des Weibes zeigt, hat man natürlich zu erklären ge-
sucht durch die Voraussetzung, daſs, während Jesus am
Brunnen saſs und die Frau aus dem Städtchen daherge-
gangen kam, ihm ein Vorübergehender einen Wink gegeben
habe, sich mit ihr, als einer solchen, die jezt nach dem
sechsten Manne trachte, nicht einzulassen 10). Allein neben
dem Unwahrscheinlichen, daſs ein Vorübergehender nichts
Angelegeneres mit Jesu zu sprechen gehabt haben sollte,
als ihn von den Verhältnissen eines unbedeutenden Weibes
zu unterrichten, stimmen jezt Freunde wie Gegner des
vierten Evangeliums darin überein, daſs jede natürliche Er-
klärung jener Kunde Jesu der Absicht des Referenten ge-
8) s. Tholuck, S. 77. 121. 141. 155.
9) vgl. Schöttgen, horae, 1, S. 970 f. Wetstein, S. 863.
10) Paulus, Leben Jesu, 1, a, 187; Comment. 4, z. d. St.
Das Leben Jesu I. Band. 33
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 513. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/537>, abgerufen am 22.11.2024.
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