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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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Zweiter Abschnitt.
radezu widerstrebe 11). Denn wenn dieser um der Eröff-
nungen über ihre Verhältnisse willen nicht allein die Frau
selbst (V. 19.), sondern auch viele Bewohner der Stadt
(V. 39.) an Jesum glaubig werden lässt: so meint er diess
gewiss nicht so, dass diese Leute, wenn auch nicht im Re-
sultat (dass Jesus ein Prophet sei), so doch im Kriterium
(dass er es vermöge jener Kenntniss sein müsse) sich ge-
täuscht und übereilt, sondern dass sie ganz recht gehabt
haben. War somit jenes Wissen Jesu nach des Referenten
Ansicht ein Ausfluss seiner höheren Natur, so lässt es sich
doch nicht mit modernen Supranaturalisten auf das Ver-
mögen Jesu zurückführen, welches Johannes auch 2, 24 f.
an ihm rühmt, dass er nämlich ohne fremdes Zeugniss ge-
wusst habe, was im Menschen war 12). Denn hier weiss
Jesus nicht bloss was in dem Weibe ist, ihre jetzige zwei-
deutige Gemüthslage zu demjenigen, der nicht eigentlich
ihr Mann war, sondern auch die rein äusserliche Notiz
hat er, dass sie vorher schon fünf Männer gehabt habe, von
welchen man sich doch nicht vorstellen kann, dass jeder ei-
ne besondre Spur in ihrem Gemüthe zurückgelassen hätte.
Dass nun Jesus vermöge des durchdringenden Scharfblicks,
mit welchem er die Herzen derer, mit denen er zu thun
hatte, durchdrang, auch seine eigenen messianischen Schick-
sale und die grossen Entwicklungsknoten seines Reiches
prophetisch vorausgesehen habe, diess kann man bei einer
gewissen Ansicht von seiner Person wahrscheinlich und in
jedem Falle nur höchst würdig finden: dass er aber die
äussern Verhältnisse anderer unbedeutenden Personen im
kleinsten Detail gekannt habe, diess ist, je höher man sei-
ne prophetische Würde fasst, eine desto unwürdigere Vor-
stellung, und jedenfalls zerstört eine solche empirische,
nicht Allwissenheit sondern Alleswisserei, das menschliche

11) Vgl. Olshausen z. d. St. und Bretschneider, Probab. S. 50.
12) Olshausen, Lücke z. d. St.

Zweiter Abschnitt.
radezu widerstrebe 11). Denn wenn dieser um der Eröff-
nungen über ihre Verhältnisse willen nicht allein die Frau
selbst (V. 19.), sondern auch viele Bewohner der Stadt
(V. 39.) an Jesum glaubig werden läſst: so meint er dieſs
gewiſs nicht so, daſs diese Leute, wenn auch nicht im Re-
sultat (daſs Jesus ein Prophet sei), so doch im Kriterium
(daſs er es vermöge jener Kenntniſs sein müsse) sich ge-
täuscht und übereilt, sondern daſs sie ganz recht gehabt
haben. War somit jenes Wissen Jesu nach des Referenten
Ansicht ein Ausfluſs seiner höheren Natur, so läſst es sich
doch nicht mit modernen Supranaturalisten auf das Ver-
mögen Jesu zurückführen, welches Johannes auch 2, 24 f.
an ihm rühmt, daſs er nämlich ohne fremdes Zeugniſs ge-
wuſst habe, was im Menschen war 12). Denn hier weiſs
Jesus nicht bloſs was in dem Weibe ist, ihre jetzige zwei-
deutige Gemüthslage zu demjenigen, der nicht eigentlich
ihr Mann war, sondern auch die rein äusserliche Notiz
hat er, daſs sie vorher schon fünf Männer gehabt habe, von
welchen man sich doch nicht vorstellen kann, daſs jeder ei-
ne besondre Spur in ihrem Gemüthe zurückgelassen hätte.
Daſs nun Jesus vermöge des durchdringenden Scharfblicks,
mit welchem er die Herzen derer, mit denen er zu thun
hatte, durchdrang, auch seine eigenen messianischen Schick-
sale und die groſsen Entwicklungsknoten seines Reiches
prophetisch vorausgesehen habe, dieſs kann man bei einer
gewissen Ansicht von seiner Person wahrscheinlich und in
jedem Falle nur höchst würdig finden: daſs er aber die
äussern Verhältnisse anderer unbedeutenden Personen im
kleinsten Detail gekannt habe, dieſs ist, je höher man sei-
ne prophetische Würde faſst, eine desto unwürdigere Vor-
stellung, und jedenfalls zerstört eine solche empirische,
nicht Allwissenheit sondern Alleswisserei, das menschliche

11) Vgl. Olshausen z. d. St. und Bretschneider, Probab. S. 50.
12) Olshausen, Lücke z. d. St.
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[514/0538] Zweiter Abschnitt. radezu widerstrebe 11). Denn wenn dieser um der Eröff- nungen über ihre Verhältnisse willen nicht allein die Frau selbst (V. 19.), sondern auch viele Bewohner der Stadt (V. 39.) an Jesum glaubig werden läſst: so meint er dieſs gewiſs nicht so, daſs diese Leute, wenn auch nicht im Re- sultat (daſs Jesus ein Prophet sei), so doch im Kriterium (daſs er es vermöge jener Kenntniſs sein müsse) sich ge- täuscht und übereilt, sondern daſs sie ganz recht gehabt haben. War somit jenes Wissen Jesu nach des Referenten Ansicht ein Ausfluſs seiner höheren Natur, so läſst es sich doch nicht mit modernen Supranaturalisten auf das Ver- mögen Jesu zurückführen, welches Johannes auch 2, 24 f. an ihm rühmt, daſs er nämlich ohne fremdes Zeugniſs ge- wuſst habe, was im Menschen war 12). Denn hier weiſs Jesus nicht bloſs was in dem Weibe ist, ihre jetzige zwei- deutige Gemüthslage zu demjenigen, der nicht eigentlich ihr Mann war, sondern auch die rein äusserliche Notiz hat er, daſs sie vorher schon fünf Männer gehabt habe, von welchen man sich doch nicht vorstellen kann, daſs jeder ei- ne besondre Spur in ihrem Gemüthe zurückgelassen hätte. Daſs nun Jesus vermöge des durchdringenden Scharfblicks, mit welchem er die Herzen derer, mit denen er zu thun hatte, durchdrang, auch seine eigenen messianischen Schick- sale und die groſsen Entwicklungsknoten seines Reiches prophetisch vorausgesehen habe, dieſs kann man bei einer gewissen Ansicht von seiner Person wahrscheinlich und in jedem Falle nur höchst würdig finden: daſs er aber die äussern Verhältnisse anderer unbedeutenden Personen im kleinsten Detail gekannt habe, dieſs ist, je höher man sei- ne prophetische Würde faſst, eine desto unwürdigere Vor- stellung, und jedenfalls zerstört eine solche empirische, nicht Allwissenheit sondern Alleswisserei, das menschliche 11) Vgl. Olshausen z. d. St. und Bretschneider, Probab. S. 50. 12) Olshausen, Lücke z. d. St.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 514. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/538>, abgerufen am 22.11.2024.