geliums den Übelstand finden wollen, dass hier Matthäus erst ziemlich nach der Bergrede berufen werde, da doch nach Lukas (6, 13 ff.) vor der Bergrede schon sämmtliche Zwölfe ausgewählt gewesen seien 6). Allein diess würde höchstens nur beweisen, dass das erste Evangelium jene Berufungsgeschichte unrichtig stelle, nicht aber, dass es dieselbe auch falsch erzähle. Da es somit irrig ist, der Erzählung des ersten Evangelisten eigenthümliche Schwie- rigkeiten aufbürden zu wollen, ebensowenig aber in der der beiden andern sich dergleichen zeigen: so fragt es sich nur noch, ob sie von keinen gemeinsamen gedrückt wer- den, welche dann beide Berichte als unhistorisch erschei- nen lassen würden?
In dieser Hinsicht kann die genaue Analogie dieser Berufungsgeschichte mit der der beiden Brüderpaare be- denklich machen. Wie diese von den Netzen, so wird hier der Jünger von der Zollbank abgerufen; wie dort, so braucht es hier nichts weiter als das einfache: akolouthei moi, und dieser Ruf des Messias hat über das Gemüth der Berufenen eine so unwiderstehliche Gewalt, dass hier der Zöllner, wie dort die Fischer, katalipon apanta anasas ekolouthesen auto. Allerdings ist nicht zu leugnen, womit Fritzsche die Anklagen eines Julian und Porphyrius, Matthäus zeige sich hier leichtsinnig, zurückschlägt, dass Matthäus Jesum, der damals schon längere Zeit in jenen Gegenden gewirkt hatte, längst gekannt haben müsse; aber eben je länger auch Jesus ihn schon beobachtet hatte, desto leichter konnte er eine Gelegenheit finden, den Mann allmählich und ruhig in seine Nachfolge zu ziehen, statt ihn so tumultuarisch mitten aus seinem Beruf herauszu- reissen. Freilich meint Paulus, es sei hier von keiner Berufung zur Jüngerschaft, von keinem plözlichen Ver- lassen des bisherigen Gewerbes die Rede, sondern Jesus
6)Sieffert, S. 60.
Fünftes Kapitel. §. 68.
geliums den Übelstand finden wollen, daſs hier Matthäus erst ziemlich nach der Bergrede berufen werde, da doch nach Lukas (6, 13 ff.) vor der Bergrede schon sämmtliche Zwölfe ausgewählt gewesen seien 6). Allein dieſs würde höchstens nur beweisen, daſs das erste Evangelium jene Berufungsgeschichte unrichtig stelle, nicht aber, daſs es dieselbe auch falsch erzähle. Da es somit irrig ist, der Erzählung des ersten Evangelisten eigenthümliche Schwie- rigkeiten aufbürden zu wollen, ebensowenig aber in der der beiden andern sich dergleichen zeigen: so fragt es sich nur noch, ob sie von keinen gemeinsamen gedrückt wer- den, welche dann beide Berichte als unhistorisch erschei- nen lassen würden?
In dieser Hinsicht kann die genaue Analogie dieser Berufungsgeschichte mit der der beiden Brüderpaare be- denklich machen. Wie diese von den Netzen, so wird hier der Jünger von der Zollbank abgerufen; wie dort, so braucht es hier nichts weiter als das einfache: ἀκολούϑει μοι, und dieser Ruf des Messias hat über das Gemüth der Berufenen eine so unwiderstehliche Gewalt, daſs hier der Zöllner, wie dort die Fischer, καταλιπὼν ἄπαντα άναςὰς ἠκολούϑησεν αὐτῷ. Allerdings ist nicht zu leugnen, womit Fritzsche die Anklagen eines Julian und Porphyrius, Matthäus zeige sich hier leichtsinnig, zurückschlägt, daſs Matthäus Jesum, der damals schon längere Zeit in jenen Gegenden gewirkt hatte, längst gekannt haben müsse; aber eben je länger auch Jesus ihn schon beobachtet hatte, desto leichter konnte er eine Gelegenheit finden, den Mann allmählich und ruhig in seine Nachfolge zu ziehen, statt ihn so tumultuarisch mitten aus seinem Beruf herauszu- reissen. Freilich meint Paulus, es sei hier von keiner Berufung zur Jüngerschaft, von keinem plözlichen Ver- lassen des bisherigen Gewerbes die Rede, sondern Jesus
6)Sieffert, S. 60.
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Fünftes Kapitel. §. 68.
geliums den Übelstand finden wollen, daſs hier Matthäus
erst ziemlich nach der Bergrede berufen werde, da doch
nach Lukas (6, 13 ff.) vor der Bergrede schon sämmtliche
Zwölfe ausgewählt gewesen seien 6). Allein dieſs würde
höchstens nur beweisen, daſs das erste Evangelium jene
Berufungsgeschichte unrichtig stelle, nicht aber, daſs es
dieselbe auch falsch erzähle. Da es somit irrig ist, der
Erzählung des ersten Evangelisten eigenthümliche Schwie-
rigkeiten aufbürden zu wollen, ebensowenig aber in der
der beiden andern sich dergleichen zeigen: so fragt es sich
nur noch, ob sie von keinen gemeinsamen gedrückt wer-
den, welche dann beide Berichte als unhistorisch erschei-
nen lassen würden?
In dieser Hinsicht kann die genaue Analogie dieser
Berufungsgeschichte mit der der beiden Brüderpaare be-
denklich machen. Wie diese von den Netzen, so wird
hier der Jünger von der Zollbank abgerufen; wie dort,
so braucht es hier nichts weiter als das einfache: ἀκολούϑει
μοι, und dieser Ruf des Messias hat über das Gemüth der
Berufenen eine so unwiderstehliche Gewalt, daſs hier der
Zöllner, wie dort die Fischer, καταλιπὼν ἄπαντα άναςὰς
ἠκολούϑησεν αὐτῷ. Allerdings ist nicht zu leugnen, womit
Fritzsche die Anklagen eines Julian und Porphyrius,
Matthäus zeige sich hier leichtsinnig, zurückschlägt, daſs
Matthäus Jesum, der damals schon längere Zeit in jenen
Gegenden gewirkt hatte, längst gekannt haben müsse; aber
eben je länger auch Jesus ihn schon beobachtet hatte,
desto leichter konnte er eine Gelegenheit finden, den Mann
allmählich und ruhig in seine Nachfolge zu ziehen, statt
ihn so tumultuarisch mitten aus seinem Beruf herauszu-
reissen. Freilich meint Paulus, es sei hier von keiner
Berufung zur Jüngerschaft, von keinem plözlichen Ver-
lassen des bisherigen Gewerbes die Rede, sondern Jesus
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 543. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/567>, abgerufen am 21.11.2024.
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