Bergrede zu halten. Auch Markus (a. a. O.) berichtet in dem- selben Zusammenhang, dass Jesus auf einem Berge aus der grösseren Anzahl seiner Schüler nach beliebiger Auswahl zwölf Männer berufen habe.
Dass nun Jesus nach der Darstellung des Lukas ge- rade vor der Bergrede und mit Beziehung auf dieselbe die Zwölfe ausgewählt habe, davon lässt sich kein Grund ent- decken, indem diese Rede weder besonders auf sie berech- net ist 1), noch sie bei Abhaltung derselben eine Funktion haben konnten; die Darstellung bei Markus aber sieht so ganz darnach aus, nach dem ganz unbestimmten Datum, dass Jesus die Zwölfe ausgewählt habe, aus eigner Phan- tasie gemacht zu sein, dass aus ihr über die eigentliche Veranlassung und Art dieser Auswahl keine Belehrung zu entnehmen ist 2), und Matthäus noch am besten zu thun scheint, wenn er die eigentliche Berufungsscene, ohne sie zu schildern, blos voraussezt, wie auch Johannes, ohne vorher einer Auswahl gedacht zu haben, auf einmal (6, 67.) von den dodeka zu sprechen anfängt.
Wird so, dass Jesus selbst die Zwölfzahl der Apostel festgestellt habe, in den Evangelien eigentlich immer nur vorausgesezt: so fragt sich, ob die Voraussetzung richtig ist? Zwar, dass zu Jesu Lebzeiten schon jene Zahl sich fixirt hatte, scheint dadurch unumstösslich zu werden, dass nicht nur nach der Darstellung der Apostelgeschichte die Zwölfe gleich nach Jesu Himmelfahrt als ein so geschlossenes Corps auftreten, dass sie die durch den Abgang des Judas ent- standene Lücke alsbald durch eine neue Wahl ausfüllen zu müssen glauben (1, 15 ff.), sondern auch Paulus (1 Cor. 15, 5.) von einer tois dodeka zu Theil gewordenen Erscheinung des Auferstandenen spricht. Das aber hat namentlich Schlei- ermacher gefragt, ob Jesus selbst die Zwölfe ausgewählt,
1)Schleiermacher, über den Lukas, S. 85.
2) Vgl. dens. ebendas.
Fünftes Kapitel. §. 69.
Bergrede zu halten. Auch Markus (a. a. O.) berichtet in dem- selben Zusammenhang, daſs Jesus auf einem Berge aus der gröſseren Anzahl seiner Schüler nach beliebiger Auswahl zwölf Männer berufen habe.
Daſs nun Jesus nach der Darstellung des Lukas ge- rade vor der Bergrede und mit Beziehung auf dieselbe die Zwölfe ausgewählt habe, davon läſst sich kein Grund ent- decken, indem diese Rede weder besonders auf sie berech- net ist 1), noch sie bei Abhaltung derselben eine Funktion haben konnten; die Darstellung bei Markus aber sieht so ganz darnach aus, nach dem ganz unbestimmten Datum, daſs Jesus die Zwölfe ausgewählt habe, aus eigner Phan- tasie gemacht zu sein, daſs aus ihr über die eigentliche Veranlassung und Art dieser Auswahl keine Belehrung zu entnehmen ist 2), und Matthäus noch am besten zu thun scheint, wenn er die eigentliche Berufungsscene, ohne sie zu schildern, blos voraussezt, wie auch Johannes, ohne vorher einer Auswahl gedacht zu haben, auf einmal (6, 67.) von den δώδεκα zu sprechen anfängt.
Wird so, daſs Jesus selbst die Zwölfzahl der Apostel festgestellt habe, in den Evangelien eigentlich immer nur vorausgesezt: so fragt sich, ob die Voraussetzung richtig ist? Zwar, daſs zu Jesu Lebzeiten schon jene Zahl sich fixirt hatte, scheint dadurch unumstöſslich zu werden, daſs nicht nur nach der Darstellung der Apostelgeschichte die Zwölfe gleich nach Jesu Himmelfahrt als ein so geschlossenes Corps auftreten, daſs sie die durch den Abgang des Judas ent- standene Lücke alsbald durch eine neue Wahl ausfüllen zu müssen glauben (1, 15 ff.), sondern auch Paulus (1 Cor. 15, 5.) von einer τοῖς δώδεκα zu Theil gewordenen Erscheinung des Auferstandenen spricht. Das aber hat namentlich Schlei- ermacher gefragt, ob Jesus selbst die Zwölfe ausgewählt,
1)Schleiermacher, über den Lukas, S. 85.
2) Vgl. dens. ebendas.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0573"n="549"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Fünftes Kapitel</hi>. §. 69.</fw><lb/>
Bergrede zu halten. Auch Markus (a. a. O.) berichtet in dem-<lb/>
selben Zusammenhang, daſs Jesus auf einem Berge aus der<lb/>
gröſseren Anzahl seiner Schüler nach beliebiger Auswahl<lb/>
zwölf Männer berufen habe.</p><lb/><p>Daſs nun Jesus nach der Darstellung des Lukas ge-<lb/>
rade vor der Bergrede und mit Beziehung auf dieselbe die<lb/>
Zwölfe ausgewählt habe, davon läſst sich kein Grund ent-<lb/>
decken, indem diese Rede weder besonders auf sie berech-<lb/>
net ist <noteplace="foot"n="1)"><hirendition="#k">Schleiermacher</hi>, über den Lukas, S. 85.</note>, noch sie bei Abhaltung derselben eine Funktion<lb/>
haben konnten; die Darstellung bei Markus aber sieht so<lb/>
ganz darnach aus, nach dem ganz unbestimmten Datum,<lb/>
daſs Jesus die Zwölfe ausgewählt habe, aus eigner Phan-<lb/>
tasie gemacht zu sein, daſs aus ihr über die eigentliche<lb/>
Veranlassung und Art dieser Auswahl keine Belehrung zu<lb/>
entnehmen ist <noteplace="foot"n="2)">Vgl. dens. ebendas.</note>, und Matthäus noch am besten zu thun<lb/>
scheint, wenn er die eigentliche Berufungsscene, ohne sie<lb/>
zu schildern, blos voraussezt, wie auch Johannes, ohne<lb/>
vorher einer Auswahl gedacht zu haben, auf einmal (6, 67.)<lb/>
von den δώδεκα zu sprechen anfängt.</p><lb/><p>Wird so, daſs Jesus selbst die Zwölfzahl der Apostel<lb/>
festgestellt habe, in den Evangelien eigentlich immer nur<lb/>
vorausgesezt: so fragt sich, ob die Voraussetzung richtig ist?<lb/>
Zwar, daſs zu Jesu Lebzeiten schon jene Zahl sich fixirt<lb/>
hatte, scheint dadurch unumstöſslich zu werden, daſs nicht<lb/>
nur nach der Darstellung der Apostelgeschichte die Zwölfe<lb/>
gleich nach Jesu Himmelfahrt als ein so geschlossenes Corps<lb/>
auftreten, daſs sie die durch den Abgang des Judas ent-<lb/>
standene Lücke alsbald durch eine neue Wahl ausfüllen zu<lb/>
müssen glauben (1, 15 ff.), sondern auch Paulus (1 Cor. 15,<lb/>
5.) von einer <foreignxml:lang="ell">τοῖςδώδεκα</foreign> zu Theil gewordenen Erscheinung<lb/>
des Auferstandenen spricht. Das aber hat namentlich <hirendition="#k">Schlei-<lb/>
ermacher</hi> gefragt, ob Jesus selbst die Zwölfe ausgewählt,<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[549/0573]
Fünftes Kapitel. §. 69.
Bergrede zu halten. Auch Markus (a. a. O.) berichtet in dem-
selben Zusammenhang, daſs Jesus auf einem Berge aus der
gröſseren Anzahl seiner Schüler nach beliebiger Auswahl
zwölf Männer berufen habe.
Daſs nun Jesus nach der Darstellung des Lukas ge-
rade vor der Bergrede und mit Beziehung auf dieselbe die
Zwölfe ausgewählt habe, davon läſst sich kein Grund ent-
decken, indem diese Rede weder besonders auf sie berech-
net ist 1), noch sie bei Abhaltung derselben eine Funktion
haben konnten; die Darstellung bei Markus aber sieht so
ganz darnach aus, nach dem ganz unbestimmten Datum,
daſs Jesus die Zwölfe ausgewählt habe, aus eigner Phan-
tasie gemacht zu sein, daſs aus ihr über die eigentliche
Veranlassung und Art dieser Auswahl keine Belehrung zu
entnehmen ist 2), und Matthäus noch am besten zu thun
scheint, wenn er die eigentliche Berufungsscene, ohne sie
zu schildern, blos voraussezt, wie auch Johannes, ohne
vorher einer Auswahl gedacht zu haben, auf einmal (6, 67.)
von den δώδεκα zu sprechen anfängt.
Wird so, daſs Jesus selbst die Zwölfzahl der Apostel
festgestellt habe, in den Evangelien eigentlich immer nur
vorausgesezt: so fragt sich, ob die Voraussetzung richtig ist?
Zwar, daſs zu Jesu Lebzeiten schon jene Zahl sich fixirt
hatte, scheint dadurch unumstöſslich zu werden, daſs nicht
nur nach der Darstellung der Apostelgeschichte die Zwölfe
gleich nach Jesu Himmelfahrt als ein so geschlossenes Corps
auftreten, daſs sie die durch den Abgang des Judas ent-
standene Lücke alsbald durch eine neue Wahl ausfüllen zu
müssen glauben (1, 15 ff.), sondern auch Paulus (1 Cor. 15,
5.) von einer τοῖς δώδεκα zu Theil gewordenen Erscheinung
des Auferstandenen spricht. Das aber hat namentlich Schlei-
ermacher gefragt, ob Jesus selbst die Zwölfe ausgewählt,
1) Schleiermacher, über den Lukas, S. 85.
2) Vgl. dens. ebendas.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 549. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/573>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.