auf den Einen Punkt, in welchem jeder von ihnen die Welt- geschichte vorwärts zu bringen berufen war.
Dass nun aber vollends von der Streitfrage über den Messias als Davids Sohn und zugleich Herrn, welche Jesus den Pharisäern vorlegt (V. 41--46.), Paulus behaupten kann, sie sei ein Muster textgemässer Schriftauslegung 15), erregt kein gutes Vorurtheil für die Textgemässheit seiner eige- nen. Nach ihm will Jesus, wenn er fragt, wie doch Da- vid im 110ten Psalm den Messias, welcher laut der allge- meinen Vorstellung vielmehr sein Sohn war, seinen Herrn nennen könne? die Pharisäer darauf aufmerksam machen, dass eben in diesem Psalm weder David noch vom Mes- sias rede, sondern ein anderer Dichter rede von David als seinem Herrn, so dass dieser kriegerisch lautende Psalm gar kein messianischer sei. Warum sollte, fragt Paulus, Jesus diesen Sinn des Psalms nicht gefunden haben, da er an sich wahr ist? Allein das ist eben das proton pseudos dieser ganzen Art von Exegese, zu meinen, was an sich, oder näher für uns, wahr ist, das müsse bis auf das Ein- zelste hinaus auch schon für Jesum und die Apostel das Wahre gewesen sein. Wie kann, da die älteren jüdischen Erklärer den Psalm grossentheils vom Messias verstanden 16), da die Apostel ihn als Weissagung auf Christum gebrau- chen (A. G. 2, 34 f. 1 Kor. 15, 25.), da Jesus selbst nach Matthäus und Markus durch den Zusaz en pneumati zu Da- uid kalei auton Kurion offenbar seine Beistimmung zu der Meinung, dass hier David, und zwar vom Messias spreche, ausdrückt: wie kann man da annehmlich finden, dass Jesus der entgegengesezten Meinung gewesen sei? Bleibt es viel- mehr dabei, was auch Olshausen gut ausführt, dass Jesus den Psalm als messianischen voraussezte, aber eben-
15) L. J. 1, b, S. 115 ff.
16) s. Wetstein, z. d. St.; Hengstenberg, Christol. 1, a, S. 140 f; auch Paulus selbst, ex. Handb. 3, a, S. 283 f.
Sechstes Kapitel. §. 75.
auf den Einen Punkt, in welchem jeder von ihnen die Welt- geschichte vorwärts zu bringen berufen war.
Daſs nun aber vollends von der Streitfrage über den Messias als Davids Sohn und zugleich Herrn, welche Jesus den Pharisäern vorlegt (V. 41—46.), Paulus behaupten kann, sie sei ein Muster textgemäſser Schriftauslegung 15), erregt kein gutes Vorurtheil für die Textgemäſsheit seiner eige- nen. Nach ihm will Jesus, wenn er fragt, wie doch Da- vid im 110ten Psalm den Messias, welcher laut der allge- meinen Vorstellung vielmehr sein Sohn war, seinen Herrn nennen könne? die Pharisäer darauf aufmerksam machen, daſs eben in diesem Psalm weder David noch vom Mes- sias rede, sondern ein anderer Dichter rede von David als seinem Herrn, so daſs dieser kriegerisch lautende Psalm gar kein messianischer sei. Warum sollte, fragt Paulus, Jesus diesen Sinn des Psalms nicht gefunden haben, da er an sich wahr ist? Allein das ist eben das πρῶτον ψεῦδος dieser ganzen Art von Exegese, zu meinen, was an sich, oder näher für uns, wahr ist, das müsse bis auf das Ein- zelste hinaus auch schon für Jesum und die Apostel das Wahre gewesen sein. Wie kann, da die älteren jüdischen Erklärer den Psalm groſsentheils vom Messias verstanden 16), da die Apostel ihn als Weissagung auf Christum gebrau- chen (A. G. 2, 34 f. 1 Kor. 15, 25.), da Jesus selbst nach Matthäus und Markus durch den Zusaz ἐν πνεύματι zu Δα- υὶδ καλεῖ αὐτὸν Κύριον offenbar seine Beistimmung zu der Meinung, daſs hier David, und zwar vom Messias spreche, ausdrückt: wie kann man da annehmlich finden, daſs Jesus der entgegengesezten Meinung gewesen sei? Bleibt es viel- mehr dabei, was auch Olshausen gut ausführt, daſs Jesus den Psalm als messianischen voraussezte, aber eben-
15) L. J. 1, b, S. 115 ff.
16) s. Wetstein, z. d. St.; Hengstenberg, Christol. 1, a, S. 140 f; auch Paulus selbst, ex. Handb. 3, a, S. 283 f.
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Sechstes Kapitel. §. 75.
auf den Einen Punkt, in welchem jeder von ihnen die Welt-
geschichte vorwärts zu bringen berufen war.
Daſs nun aber vollends von der Streitfrage über den
Messias als Davids Sohn und zugleich Herrn, welche Jesus
den Pharisäern vorlegt (V. 41—46.), Paulus behaupten kann,
sie sei ein Muster textgemäſser Schriftauslegung 15), erregt
kein gutes Vorurtheil für die Textgemäſsheit seiner eige-
nen. Nach ihm will Jesus, wenn er fragt, wie doch Da-
vid im 110ten Psalm den Messias, welcher laut der allge-
meinen Vorstellung vielmehr sein Sohn war, seinen Herrn
nennen könne? die Pharisäer darauf aufmerksam machen,
daſs eben in diesem Psalm weder David noch vom Mes-
sias rede, sondern ein anderer Dichter rede von David als
seinem Herrn, so daſs dieser kriegerisch lautende Psalm
gar kein messianischer sei. Warum sollte, fragt Paulus,
Jesus diesen Sinn des Psalms nicht gefunden haben, da er
an sich wahr ist? Allein das ist eben das πρῶτον ψεῦδος
dieser ganzen Art von Exegese, zu meinen, was an sich,
oder näher für uns, wahr ist, das müsse bis auf das Ein-
zelste hinaus auch schon für Jesum und die Apostel das
Wahre gewesen sein. Wie kann, da die älteren jüdischen
Erklärer den Psalm groſsentheils vom Messias verstanden 16),
da die Apostel ihn als Weissagung auf Christum gebrau-
chen (A. G. 2, 34 f. 1 Kor. 15, 25.), da Jesus selbst nach
Matthäus und Markus durch den Zusaz ἐν πνεύματι zu Δα-
υὶδ καλεῖ αὐτὸν Κύριον offenbar seine Beistimmung zu der
Meinung, daſs hier David, und zwar vom Messias spreche,
ausdrückt: wie kann man da annehmlich finden, daſs Jesus
der entgegengesezten Meinung gewesen sei? Bleibt es viel-
mehr dabei, was auch Olshausen gut ausführt, daſs
Jesus den Psalm als messianischen voraussezte, aber eben-
15) L. J. 1, b, S. 115 ff.
16) s. Wetstein, z. d. St.; Hengstenberg, Christol. 1, a, S.
140 f; auch Paulus selbst, ex. Handb. 3, a, S. 283 f.
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 621. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/645>, abgerufen am 23.11.2024.
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