Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.Sechstes Kapitel. §. 75. führt werden, dass, während bei Matthäus Jesus nur vondem Gebot der Liebe spricht, er bei Markus von dem akoue Israel, Kurios o theos emon Kurios eis esi ausholt. Wenn man also um der Differenzen zwischen der Er- zählung des Lukas und der der beiden andern willen diese unterscheiden zu müssen glaubt: so muss man nicht gerin- gerer Unterschiede wegen auch den Markus von Matthäus trennen, und so dreierlei Begebenheiten als zum Grunde liegend denken. Aber drei im Wesentlichen so ähnliche Vorfälle anzunehmen, fällt so schwer, dass man sich im- mer wieder zu Reduktionsversuchen veranlasst finden wird. Und hier scheinen sich nun zwar vor Allem die beiden Erzählungen des Matthäus und Markus zur Identificirung darzubieten: indessen fehlt es auch weder zwischen Mat- thäus und Lukas an Berührungspunkten, da in beiden der nomikos als peirazon auftritt, und durch Jesu Antwort nicht zu dessen Gunsten gestimmt wird, noch auch zwi- schen Lukas und Markus, indem beide der Nennung der höchsten Gebote noch eine weitere erläuternde Verhand- lung folgen, und in das Gespräch Jesu mit dem Schrift- gelehrten Beifallsformeln wie orthos apekrithes, kalos ep' aletheias eipas einfliessen lassen. So sehen wir, dass, nur zwei von diesen Erzählungen zusammenzunehmen, eine halbe Massregel ist, und entweder alle drei auseinander- gehalten werden müssen, oder, da diess nicht angeht, alle drei zusammengefasst, woraus wir abermals sehen, in wie freien Variationen die urchristliche Sage das glei- che Thema -- hier das, dass Jesus aus dem mosaischen Gesetze die beiden Gebote der Gottes- und Nächstenliebe als die vornehmsten herausgehoben habe, -- zu behandeln pflegte. Wir kommen nun an die grosse antipharisäische Rede, Das Leben Jesu I. Band. 40
Sechstes Kapitel. §. 75. führt werden, daſs, während bei Matthäus Jesus nur vondem Gebot der Liebe spricht, er bei Markus von dem ἄκουε Ἰσραὴλ, Κύριος ὁ ϑεὸς ἡμῶν Κύριος εἶς ἐςι ausholt. Wenn man also um der Differenzen zwischen der Er- zählung des Lukas und der der beiden andern willen diese unterscheiden zu müssen glaubt: so muſs man nicht gerin- gerer Unterschiede wegen auch den Markus von Matthäus trennen, und so dreierlei Begebenheiten als zum Grunde liegend denken. Aber drei im Wesentlichen so ähnliche Vorfälle anzunehmen, fällt so schwer, daſs man sich im- mer wieder zu Reduktionsversuchen veranlaſst finden wird. Und hier scheinen sich nun zwar vor Allem die beiden Erzählungen des Matthäus und Markus zur Identificirung darzubieten: indessen fehlt es auch weder zwischen Mat- thäus und Lukas an Berührungspunkten, da in beiden der νομικὸς als πειράζων auftritt, und durch Jesu Antwort nicht zu dessen Gunsten gestimmt wird, noch auch zwi- schen Lukas und Markus, indem beide der Nennung der höchsten Gebote noch eine weitere erläuternde Verhand- lung folgen, und in das Gespräch Jesu mit dem Schrift- gelehrten Beifallsformeln wie ὀρϑῶς ἀπεκρίϑης, καλῶς ἐπ' ἀληϑείας εἶπας einflieſsen lassen. So sehen wir, daſs, nur zwei von diesen Erzählungen zusammenzunehmen, eine halbe Maſsregel ist, und entweder alle drei auseinander- gehalten werden müssen, oder, da dieſs nicht angeht, alle drei zusammengefaſst, woraus wir abermals sehen, in wie freien Variationen die urchristliche Sage das glei- che Thema — hier das, daſs Jesus aus dem mosaischen Gesetze die beiden Gebote der Gottes- und Nächstenliebe als die vornehmsten herausgehoben habe, — zu behandeln pflegte. Wir kommen nun an die groſse antipharisäische Rede, Das Leben Jesu I. Band. 40
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Sechstes Kapitel. §. 75.
führt werden, daſs, während bei Matthäus Jesus nur von
dem Gebot der Liebe spricht, er bei Markus von dem
ἄκουε Ἰσραὴλ, Κύριος ὁ ϑεὸς ἡμῶν Κύριος εἶς ἐςι ausholt.
Wenn man also um der Differenzen zwischen der Er-
zählung des Lukas und der der beiden andern willen diese
unterscheiden zu müssen glaubt: so muſs man nicht gerin-
gerer Unterschiede wegen auch den Markus von Matthäus
trennen, und so dreierlei Begebenheiten als zum Grunde
liegend denken. Aber drei im Wesentlichen so ähnliche
Vorfälle anzunehmen, fällt so schwer, daſs man sich im-
mer wieder zu Reduktionsversuchen veranlaſst finden wird.
Und hier scheinen sich nun zwar vor Allem die beiden
Erzählungen des Matthäus und Markus zur Identificirung
darzubieten: indessen fehlt es auch weder zwischen Mat-
thäus und Lukas an Berührungspunkten, da in beiden der
νομικὸς als πειράζων auftritt, und durch Jesu Antwort
nicht zu dessen Gunsten gestimmt wird, noch auch zwi-
schen Lukas und Markus, indem beide der Nennung der
höchsten Gebote noch eine weitere erläuternde Verhand-
lung folgen, und in das Gespräch Jesu mit dem Schrift-
gelehrten Beifallsformeln wie ὀρϑῶς ἀπεκρίϑης, καλῶς ἐπ'
ἀληϑείας εἶπας einflieſsen lassen. So sehen wir, daſs, nur
zwei von diesen Erzählungen zusammenzunehmen, eine
halbe Maſsregel ist, und entweder alle drei auseinander-
gehalten werden müssen, oder, da dieſs nicht angeht,
alle drei zusammengefaſst, woraus wir abermals sehen,
in wie freien Variationen die urchristliche Sage das glei-
che Thema — hier das, daſs Jesus aus dem mosaischen
Gesetze die beiden Gebote der Gottes- und Nächstenliebe
als die vornehmsten herausgehoben habe, — zu behandeln
pflegte.
Wir kommen nun an die groſse antipharisäische Rede,
welche Matthäus K. 23. als Haupttreffen auf die Vorspiele
der Disputationen folgen läſst. Auch Markus (12, 38 ff.)
und Lukas (20, 45 ff.) haben hier eine Rede Jesu gegen
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