Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.Sechstes Kapitel. §. 75. zu warnen, was bei Matthäus und Markus, aber auch beiLukas selbst wieder, in jener lezten antipharisäischen Rede, ohne besondern Anlass und kürzer, sich findet. Anders dagegen verhält es sich mit den Reden, welche Lukas bei dem früheren Pharisäermahl geführt werden lässt. Hier spricht Jesus nicht nur gleich von vorne herein von arpage und poneria, womit die Pharisäer ihre Schüsseln füllen, und beehrt sie mit dem Titel aphrones, sondern er bricht sofort in ein ouai um das andere über sie und die Schrift- gelehrten aus, und droht ihnen mit einem Strafgericht für alles Blut, das sie und die ihnen Gleichgesinnten von jeher vergossen haben. Ist nun gleich von einem jüdischen Leh- rer keine attische Urbanität zu verlangen, so mussten doch gerade auch nach morgenländischem Massstab gemessen solche Reden, über Tisch gegen den Wirth und die Mit- gäste geführt, als die gröbste Verletzung des Gastrechts erscheinen. Diess hat Schleiermacher fein genug gefühlt, wesswegen er denn das Gastmahl selber friedlich vorüber- gehen, und erst nach demselben, als Jesus sich schon wieder draussen befand, sowohl den Gastgeber mit seiner Verwunderung über die von Jesus und seinen Jüngern unterlassene Waschung herausrücken, als auch Jesum hierauf so gewaltig antworten lässt 25). Allein dass auf diese Weise der Referent das Gastmahl selbst und was dabei vorgegangen gar nicht beschrieben, sondern nur des Zusammenhangs wegen erwähnt haben soll, ist eine ge- waltsame Annahme, und wenn man liest: eiselthon de ane- pesen; o de pharisaios idon ethaumasen, oti ou' proton ebap- tisthe -- ; eipe de o Kurios pros auton, so ist es rein un- möglich, irgendwo zwischen diese Sätze den Verlauf der Mahlzeit einzuschieben, sondern es muss sich nach der Ansicht des Erzählers sowohl das ethaumasen an das ane- pesen, als das eipen an das ethaumasen unmittelbar ange- 25) a. a. O. S. 180 f. 40*
Sechstes Kapitel. §. 75. zu warnen, was bei Matthäus und Markus, aber auch beiLukas selbst wieder, in jener lezten antipharisäischen Rede, ohne besondern Anlaſs und kürzer, sich findet. Anders dagegen verhält es sich mit den Reden, welche Lukas bei dem früheren Pharisäermahl geführt werden läſst. Hier spricht Jesus nicht nur gleich von vorne herein von ἁρπαγὴ und πονηρία, womit die Pharisäer ihre Schüsseln füllen, und beehrt sie mit dem Titel ἄφρονες, sondern er bricht sofort in ein οὐαὶ um das andere über sie und die Schrift- gelehrten aus, und droht ihnen mit einem Strafgericht für alles Blut, das sie und die ihnen Gleichgesinnten von jeher vergossen haben. Ist nun gleich von einem jüdischen Leh- rer keine attische Urbanität zu verlangen, so muſsten doch gerade auch nach morgenländischem Maſsstab gemessen solche Reden, über Tisch gegen den Wirth und die Mit- gäste geführt, als die gröbste Verletzung des Gastrechts erscheinen. Dieſs hat Schleiermacher fein genug gefühlt, weſswegen er denn das Gastmahl selber friedlich vorüber- gehen, und erst nach demselben, als Jesus sich schon wieder draussen befand, sowohl den Gastgeber mit seiner Verwunderung über die von Jesus und seinen Jüngern unterlassene Waschung herausrücken, als auch Jesum hierauf so gewaltig antworten läſst 25). Allein daſs auf diese Weise der Referent das Gastmahl selbst und was dabei vorgegangen gar nicht beschrieben, sondern nur des Zusammenhangs wegen erwähnt haben soll, ist eine ge- waltsame Annahme, und wenn man liest: εἰσελϑὼν δὲ ἀνέ- πεσεν· ὁ δὲ φαρισαῖος ἰδὼν ἐϑαύμασεν, ὅτι ου᾽ πρῶτον ἐβαπ- τίσϑη — · εἶπε δὲ ὁ Κύριος πρὸς αὐτὸν, so ist es rein un- möglich, irgendwo zwischen diese Sätze den Verlauf der Mahlzeit einzuschieben, sondern es muſs sich nach der Ansicht des Erzählers sowohl das ἐϑαύμασεν an das ἀνέ- πεσεν, als das εἶπεν an das ἐϑαύμασεν unmittelbar ange- 25) a. a. O. S. 180 f. 40*
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Sechstes Kapitel. §. 75.
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Lukas selbst wieder, in jener lezten antipharisäischen Rede,
ohne besondern Anlaſs und kürzer, sich findet. Anders
dagegen verhält es sich mit den Reden, welche Lukas bei
dem früheren Pharisäermahl geführt werden läſst. Hier
spricht Jesus nicht nur gleich von vorne herein von ἁρπαγὴ
und πονηρία, womit die Pharisäer ihre Schüsseln füllen,
und beehrt sie mit dem Titel ἄφρονες, sondern er bricht
sofort in ein οὐαὶ um das andere über sie und die Schrift-
gelehrten aus, und droht ihnen mit einem Strafgericht für
alles Blut, das sie und die ihnen Gleichgesinnten von jeher
vergossen haben. Ist nun gleich von einem jüdischen Leh-
rer keine attische Urbanität zu verlangen, so muſsten doch
gerade auch nach morgenländischem Maſsstab gemessen
solche Reden, über Tisch gegen den Wirth und die Mit-
gäste geführt, als die gröbste Verletzung des Gastrechts
erscheinen. Dieſs hat Schleiermacher fein genug gefühlt,
weſswegen er denn das Gastmahl selber friedlich vorüber-
gehen, und erst nach demselben, als Jesus sich schon
wieder draussen befand, sowohl den Gastgeber mit seiner
Verwunderung über die von Jesus und seinen Jüngern
unterlassene Waschung herausrücken, als auch Jesum
hierauf so gewaltig antworten läſst 25). Allein daſs auf
diese Weise der Referent das Gastmahl selbst und was
dabei vorgegangen gar nicht beschrieben, sondern nur des
Zusammenhangs wegen erwähnt haben soll, ist eine ge-
waltsame Annahme, und wenn man liest: εἰσελϑὼν δὲ ἀνέ-
πεσεν· ὁ δὲ φαρισαῖος ἰδὼν ἐϑαύμασεν, ὅτι ου᾽ πρῶτον ἐβαπ-
τίσϑη — · εἶπε δὲ ὁ Κύριος πρὸς αὐτὸν, so ist es rein un-
möglich, irgendwo zwischen diese Sätze den Verlauf der
Mahlzeit einzuschieben, sondern es muſs sich nach der
Ansicht des Erzählers sowohl das ἐϑαύμασεν an das ἀνέ-
πεσεν, als das εἶπεν an das ἐϑαύμασεν unmittelbar ange-
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