Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.Zweiter Abschnitt. schlossen haben. Kann aber diess, wenn Jesus nicht aufdas Gröbste gegen alle Sitte verstossen haben soll, nicht wirklich so der Fall gewesen sein: so hat es mit dem Rühmen der Stellung dieser Rede bei Lukas ein Ende, und wir müssen nur noch sehen, wie er zu einer so fal- schen Stellung gekommen sein kann. Diess finden wir, wenn wir die Art vergleichen, wie die beiden andern Synoptiker des Anstosses Erwähnung thun, welchen die Pharisäer an der Unterlassung der Waschung vor Tische von Seiten Jesu und seiner Schule nahmen, woran sie übrigens andre Reden als Lukas knüpfen, welche schon oben betrachtet worden sind. Bei Matthäus (15, 1 ff.) kommen die grammateis und pharisaioi von Jerusalem und fragen Jesum, warum seine Jünger die Sitte des Wa- schens vor Tische nicht beobachten, was sie also, wie man voraussetzen kann, durch das Gerücht erfahren haben mögen; bei Markus (7, 1 ff.) sehen sie unmittelbar zu (idontes), wie einige von Jesu Jüngern mit ungewaschenen Händen essen, und stellen sie darüber zur Rede; bei Lu- kas endlich speist, wie wir gesehen haben, Jesus selbst bei einem Pharisäer, und bei dieser Gelegenheit zeigt es sich, dass er die Waschung unterlässt. Diess ist ein of- fenbarer Klimax: Hörensagen -- Zusehen -- Mitspeisen, und es fragt sich nur, in welcher Richtung er entstanden sein mag, ob in der absteigenden von Lukas zu Matthäus, oder in der aufsteigenden von Matthäus zu Lukas? Von dem Standpunkt der neuesten Kritik des ersten Evange- liums wird man nicht ermangeln, das Erstere zu behaup- ten, dass nämlich die Kunde von der ursprünglichen Scene, dem Mahle, sich in der Überlieferung verloren habe und desswegen im ersten Evangelium fehle. Allein abgesehen von dem Undenkbare, dass jene Reden bei einem Mahle sollten geführt worden sein, so ist es keineswegs die Weise der Sage, einen so anschaulichen Zug, wie eine Mahl- zeit ist, wenn sie ihn einmal hat, wieder fallen zu lassen, Zweiter Abschnitt. schlossen haben. Kann aber dieſs, wenn Jesus nicht aufdas Gröbste gegen alle Sitte verstoſsen haben soll, nicht wirklich so der Fall gewesen sein: so hat es mit dem Rühmen der Stellung dieser Rede bei Lukas ein Ende, und wir müssen nur noch sehen, wie er zu einer so fal- schen Stellung gekommen sein kann. Dieſs finden wir, wenn wir die Art vergleichen, wie die beiden andern Synoptiker des Anstoſses Erwähnung thun, welchen die Pharisäer an der Unterlassung der Waschung vor Tische von Seiten Jesu und seiner Schule nahmen, woran sie übrigens andre Reden als Lukas knüpfen, welche schon oben betrachtet worden sind. Bei Matthäus (15, 1 ff.) kommen die γραμματεῖς und φαρισαῖοι von Jerusalem und fragen Jesum, warum seine Jünger die Sitte des Wa- schens vor Tische nicht beobachten, was sie also, wie man voraussetzen kann, durch das Gerücht erfahren haben mögen; bei Markus (7, 1 ff.) sehen sie unmittelbar zu (ἰδόντες), wie einige von Jesu Jüngern mit ungewaschenen Händen essen, und stellen sie darüber zur Rede; bei Lu- kas endlich speist, wie wir gesehen haben, Jesus selbst bei einem Pharisäer, und bei dieser Gelegenheit zeigt es sich, daſs er die Waschung unterläſst. Dieſs ist ein of- fenbarer Klimax: Hörensagen — Zusehen — Mitspeisen, und es fragt sich nur, in welcher Richtung er entstanden sein mag, ob in der absteigenden von Lukas zu Matthäus, oder in der aufsteigenden von Matthäus zu Lukas? Von dem Standpunkt der neuesten Kritik des ersten Evange- liums wird man nicht ermangeln, das Erstere zu behaup- ten, daſs nämlich die Kunde von der ursprünglichen Scene, dem Mahle, sich in der Überlieferung verloren habe und deſswegen im ersten Evangelium fehle. Allein abgesehen von dem Undenkbare, daſs jene Reden bei einem Mahle sollten geführt worden sein, so ist es keineswegs die Weise der Sage, einen so anschaulichen Zug, wie eine Mahl- zeit ist, wenn sie ihn einmal hat, wieder fallen zu lassen, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0652" n="628"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Zweiter Abschnitt</hi>.</fw><lb/> schlossen haben. Kann aber dieſs, wenn Jesus nicht auf<lb/> das Gröbste gegen alle Sitte verstoſsen haben soll, nicht<lb/> wirklich so der Fall gewesen sein: so hat es mit dem<lb/> Rühmen der Stellung dieser Rede bei Lukas ein Ende,<lb/> und wir müssen nur noch sehen, wie er zu einer so fal-<lb/> schen Stellung gekommen sein kann. Dieſs finden wir,<lb/> wenn wir die Art vergleichen, wie die beiden andern<lb/> Synoptiker des Anstoſses Erwähnung thun, welchen die<lb/> Pharisäer an der Unterlassung der Waschung vor Tische<lb/> von Seiten Jesu und seiner Schule nahmen, woran sie<lb/> übrigens andre Reden als Lukas knüpfen, welche schon<lb/> oben betrachtet worden sind. Bei Matthäus (15, 1 ff.)<lb/> kommen die γραμματεῖς und <foreign xml:lang="ell">φαρισαῖοι</foreign> von Jerusalem und<lb/> fragen Jesum, warum seine Jünger die Sitte des Wa-<lb/> schens vor Tische nicht beobachten, was sie also, wie<lb/> man voraussetzen kann, durch das Gerücht erfahren haben<lb/> mögen; bei Markus (7, 1 ff.) sehen sie unmittelbar zu<lb/> (<foreign xml:lang="ell">ἰδόντες</foreign>), wie einige von Jesu Jüngern mit ungewaschenen<lb/> Händen essen, und stellen sie darüber zur Rede; bei Lu-<lb/> kas endlich speist, wie wir gesehen haben, Jesus selbst<lb/> bei einem Pharisäer, und bei dieser Gelegenheit zeigt es<lb/> sich, daſs er die Waschung unterläſst. Dieſs ist ein of-<lb/> fenbarer Klimax: Hörensagen — Zusehen — Mitspeisen,<lb/> und es fragt sich nur, in welcher Richtung er entstanden<lb/> sein mag, ob in der absteigenden von Lukas zu Matthäus,<lb/> oder in der aufsteigenden von Matthäus zu Lukas? Von<lb/> dem Standpunkt der neuesten Kritik des ersten Evange-<lb/> liums wird man nicht ermangeln, das Erstere zu behaup-<lb/> ten, daſs nämlich die Kunde von der ursprünglichen Scene,<lb/> dem Mahle, sich in der Überlieferung verloren habe und<lb/> deſswegen im ersten Evangelium fehle. Allein abgesehen<lb/> von dem Undenkbare, daſs jene Reden bei einem Mahle<lb/> sollten geführt worden sein, so ist es keineswegs die Weise<lb/> der Sage, einen so anschaulichen Zug, wie eine Mahl-<lb/> zeit ist, wenn sie ihn einmal hat, wieder fallen zu lassen,<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [628/0652]
Zweiter Abschnitt.
schlossen haben. Kann aber dieſs, wenn Jesus nicht auf
das Gröbste gegen alle Sitte verstoſsen haben soll, nicht
wirklich so der Fall gewesen sein: so hat es mit dem
Rühmen der Stellung dieser Rede bei Lukas ein Ende,
und wir müssen nur noch sehen, wie er zu einer so fal-
schen Stellung gekommen sein kann. Dieſs finden wir,
wenn wir die Art vergleichen, wie die beiden andern
Synoptiker des Anstoſses Erwähnung thun, welchen die
Pharisäer an der Unterlassung der Waschung vor Tische
von Seiten Jesu und seiner Schule nahmen, woran sie
übrigens andre Reden als Lukas knüpfen, welche schon
oben betrachtet worden sind. Bei Matthäus (15, 1 ff.)
kommen die γραμματεῖς und φαρισαῖοι von Jerusalem und
fragen Jesum, warum seine Jünger die Sitte des Wa-
schens vor Tische nicht beobachten, was sie also, wie
man voraussetzen kann, durch das Gerücht erfahren haben
mögen; bei Markus (7, 1 ff.) sehen sie unmittelbar zu
(ἰδόντες), wie einige von Jesu Jüngern mit ungewaschenen
Händen essen, und stellen sie darüber zur Rede; bei Lu-
kas endlich speist, wie wir gesehen haben, Jesus selbst
bei einem Pharisäer, und bei dieser Gelegenheit zeigt es
sich, daſs er die Waschung unterläſst. Dieſs ist ein of-
fenbarer Klimax: Hörensagen — Zusehen — Mitspeisen,
und es fragt sich nur, in welcher Richtung er entstanden
sein mag, ob in der absteigenden von Lukas zu Matthäus,
oder in der aufsteigenden von Matthäus zu Lukas? Von
dem Standpunkt der neuesten Kritik des ersten Evange-
liums wird man nicht ermangeln, das Erstere zu behaup-
ten, daſs nämlich die Kunde von der ursprünglichen Scene,
dem Mahle, sich in der Überlieferung verloren habe und
deſswegen im ersten Evangelium fehle. Allein abgesehen
von dem Undenkbare, daſs jene Reden bei einem Mahle
sollten geführt worden sein, so ist es keineswegs die Weise
der Sage, einen so anschaulichen Zug, wie eine Mahl-
zeit ist, wenn sie ihn einmal hat, wieder fallen zu lassen,
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |