Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.Zweiter Abschnitt. Verräther entgegenzugehen. In dem Zusammenhang bei Jo-hannes fallen diese Worte desswegen auf, weil der in den- selben enthaltenen Aufforderung zum Weggehen keine Fol- ge gegeben wird, sondern Jesus, wie wenn er so etwas gar nicht gesagt hätte, unmittelbar (15, 1.) fortfährt: ego e[i]mi e ampelos e alethine k. t. l., und erst nach lange noch fortgesezten Reden 18, 1. mit seinen Jüngern auf- bricht. Mit seltener Übereinstimmung jedoch haben die Ausleger der verschiedensten Farben jene Worte dahin er- klärt, dass Jesus zwar im Sinne gehabt habe, nunmehr weg- zugehen und sich nach Gethsemane zu begeben, dass ihn aber die Liebe und der Drang, seinen Jüngern noch Meh- reres mitzutheilen, festgehalten habe; so sei zwar das Ei- ne, wozu er aufforderte, das egeiresthe, in Vollzug gekom- men, aber stehend im Speisesaale habe er sofort noch wei- ter gesprochen, bis erst später (18, 1.) auch dem agomen [e]nteuthen Folge gegeben worden sei 8). Die Möglichkeit eines solchen Hergangs wird zugegeben werden müssen, so wie, dass im Andenken eines Jüngers das Bild dieses lez- ten Abends mit allen seinen Einzelheiten gar wohl so leb- haft sich erhalten konnte, dass er auch Jesu Aufstehen und rührendes Verweilen an gehöriger Stelle miterzählte. Aber, wer aus lebendiger Erinnerung heraus erzählte, der musste gerade das Anschauliche an der Sache, das Aufbrechen, und wie doch noch verweilt wurde, herausheben, nicht aber die blossen Worte, welche ohne Beifügung jener Umstän- de durchaus unverständlich bleiben. Auch hier entsteht also die Vermuthung, dass dem vierten Evangelisten eine Reminiscenz aus der evangelischen Tradition aufgestiegen, und von ihm eben da, wo sie ihm einfiel, freilich nicht im besten Zusammenhang, eingefügt worden sei, und sie wird ebensobald zur Wahrscheinlichkeit, als sich nachweisen 8) Paulus, L. J. 1, b. S. 175; Lücke, 2, S. 526 f. Tholuck, S. 273;
Olshausen, 2, S. 334. Hug, Einl. in das N. T. 2, S. 209. Zweiter Abschnitt. Verräther entgegenzugehen. In dem Zusammenhang bei Jo-hannes fallen diese Worte deſswegen auf, weil der in den- selben enthaltenen Aufforderung zum Weggehen keine Fol- ge gegeben wird, sondern Jesus, wie wenn er so etwas gar nicht gesagt hätte, unmittelbar (15, 1.) fortfährt: ἐγώ ε[ἰ]μι ἡ ἄμπελος ἡ ἀληϑινὴ κ. τ. λ., und erst nach lange noch fortgesezten Reden 18, 1. mit seinen Jüngern auf- bricht. Mit seltener Übereinstimmung jedoch haben die Ausleger der verschiedensten Farben jene Worte dahin er- klärt, daſs Jesus zwar im Sinne gehabt habe, nunmehr weg- zugehen und sich nach Gethsemane zu begeben, daſs ihn aber die Liebe und der Drang, seinen Jüngern noch Meh- reres mitzutheilen, festgehalten habe; so sei zwar das Ei- ne, wozu er aufforderte, das ἐγείρεσϑε, in Vollzug gekom- men, aber stehend im Speisesaale habe er sofort noch wei- ter gesprochen, bis erst später (18, 1.) auch dem ἄγωμεν [ἐ]ντεῦϑεν Folge gegeben worden sei 8). Die Möglichkeit eines solchen Hergangs wird zugegeben werden müssen, so wie, daſs im Andenken eines Jüngers das Bild dieses lez- ten Abends mit allen seinen Einzelheiten gar wohl so leb- haft sich erhalten konnte, daſs er auch Jesu Aufstehen und rührendes Verweilen an gehöriger Stelle miterzählte. Aber, wer aus lebendiger Erinnerung heraus erzählte, der muſste gerade das Anschauliche an der Sache, das Aufbrechen, und wie doch noch verweilt wurde, herausheben, nicht aber die bloſsen Worte, welche ohne Beifügung jener Umstän- de durchaus unverständlich bleiben. Auch hier entsteht also die Vermuthung, daſs dem vierten Evangelisten eine Reminiscenz aus der evangelischen Tradition aufgestiegen, und von ihm eben da, wo sie ihm einfiel, freilich nicht im besten Zusammenhang, eingefügt worden sei, und sie wird ebensobald zur Wahrscheinlichkeit, als sich nachweisen 8) Paulus, L. J. 1, b. S. 175; Lücke, 2, S. 526 f. Tholuck, S. 273;
Olshausen, 2, S. 334. Hug, Einl. in das N. T. 2, S. 209. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0686" n="662"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Zweiter Abschnitt</hi>.</fw><lb/> Verräther entgegenzugehen. In dem Zusammenhang bei Jo-<lb/> hannes fallen diese Worte deſswegen auf, weil der in den-<lb/> selben enthaltenen Aufforderung zum Weggehen keine Fol-<lb/> ge gegeben wird, sondern Jesus, wie wenn er so etwas<lb/> gar nicht gesagt hätte, unmittelbar (15, 1.) fortfährt: <foreign xml:lang="ell">ἐγώ<lb/> ε<supplied>ἰ</supplied>μι ἡ ἄμπελος ἡ ἀληϑινὴ κ. τ. λ.</foreign>, und erst nach lange<lb/> noch fortgesezten Reden 18, 1. mit seinen Jüngern auf-<lb/> bricht. Mit seltener Übereinstimmung jedoch haben die<lb/> Ausleger der verschiedensten Farben jene Worte dahin er-<lb/> klärt, daſs Jesus zwar im Sinne gehabt habe, nunmehr weg-<lb/> zugehen und sich nach Gethsemane zu begeben, daſs ihn<lb/> aber die Liebe und der Drang, seinen Jüngern noch Meh-<lb/> reres mitzutheilen, festgehalten habe; so sei zwar das Ei-<lb/> ne, wozu er aufforderte, das <foreign xml:lang="ell">ἐγείρεσϑε</foreign>, in Vollzug gekom-<lb/> men, aber stehend im Speisesaale habe er sofort noch wei-<lb/> ter gesprochen, bis erst später (18, 1.) auch dem <foreign xml:lang="ell">ἄγωμεν<lb/><supplied>ἐ</supplied>ντεῦϑεν</foreign> Folge gegeben worden sei <note place="foot" n="8)"><hi rendition="#k">Paulus</hi>, L. J. 1, b. S. 175; <hi rendition="#k">Lücke</hi>, 2, S. 526 f. <hi rendition="#k">Tholuck</hi>, S. 273;<lb/><hi rendition="#k">Olshausen</hi>, 2, S. 334. <hi rendition="#k">Hug</hi>, Einl. in das N. T. 2, S. 209.</note>. Die Möglichkeit<lb/> eines solchen Hergangs wird zugegeben werden müssen, so<lb/> wie, daſs im Andenken eines Jüngers das Bild dieses lez-<lb/> ten Abends mit allen seinen Einzelheiten gar wohl so leb-<lb/> haft sich erhalten konnte, daſs er auch Jesu Aufstehen und<lb/> rührendes Verweilen an gehöriger Stelle miterzählte. Aber,<lb/> wer aus lebendiger Erinnerung heraus erzählte, der muſste<lb/> gerade das Anschauliche an der Sache, das Aufbrechen,<lb/> und wie doch noch verweilt wurde, herausheben, nicht aber<lb/> die bloſsen Worte, welche ohne Beifügung jener Umstän-<lb/> de durchaus unverständlich bleiben. Auch hier entsteht<lb/> also die Vermuthung, daſs dem vierten Evangelisten eine<lb/> Reminiscenz aus der evangelischen Tradition aufgestiegen,<lb/> und von ihm eben da, wo sie ihm einfiel, freilich nicht im<lb/> besten Zusammenhang, eingefügt worden sei, und sie wird<lb/> ebensobald zur Wahrscheinlichkeit, als sich nachweisen<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [662/0686]
Zweiter Abschnitt.
Verräther entgegenzugehen. In dem Zusammenhang bei Jo-
hannes fallen diese Worte deſswegen auf, weil der in den-
selben enthaltenen Aufforderung zum Weggehen keine Fol-
ge gegeben wird, sondern Jesus, wie wenn er so etwas
gar nicht gesagt hätte, unmittelbar (15, 1.) fortfährt: ἐγώ
εἰμι ἡ ἄμπελος ἡ ἀληϑινὴ κ. τ. λ., und erst nach lange
noch fortgesezten Reden 18, 1. mit seinen Jüngern auf-
bricht. Mit seltener Übereinstimmung jedoch haben die
Ausleger der verschiedensten Farben jene Worte dahin er-
klärt, daſs Jesus zwar im Sinne gehabt habe, nunmehr weg-
zugehen und sich nach Gethsemane zu begeben, daſs ihn
aber die Liebe und der Drang, seinen Jüngern noch Meh-
reres mitzutheilen, festgehalten habe; so sei zwar das Ei-
ne, wozu er aufforderte, das ἐγείρεσϑε, in Vollzug gekom-
men, aber stehend im Speisesaale habe er sofort noch wei-
ter gesprochen, bis erst später (18, 1.) auch dem ἄγωμεν
ἐντεῦϑεν Folge gegeben worden sei 8). Die Möglichkeit
eines solchen Hergangs wird zugegeben werden müssen, so
wie, daſs im Andenken eines Jüngers das Bild dieses lez-
ten Abends mit allen seinen Einzelheiten gar wohl so leb-
haft sich erhalten konnte, daſs er auch Jesu Aufstehen und
rührendes Verweilen an gehöriger Stelle miterzählte. Aber,
wer aus lebendiger Erinnerung heraus erzählte, der muſste
gerade das Anschauliche an der Sache, das Aufbrechen,
und wie doch noch verweilt wurde, herausheben, nicht aber
die bloſsen Worte, welche ohne Beifügung jener Umstän-
de durchaus unverständlich bleiben. Auch hier entsteht
also die Vermuthung, daſs dem vierten Evangelisten eine
Reminiscenz aus der evangelischen Tradition aufgestiegen,
und von ihm eben da, wo sie ihm einfiel, freilich nicht im
besten Zusammenhang, eingefügt worden sei, und sie wird
ebensobald zur Wahrscheinlichkeit, als sich nachweisen
8) Paulus, L. J. 1, b. S. 175; Lücke, 2, S. 526 f. Tholuck, S. 273;
Olshausen, 2, S. 334. Hug, Einl. in das N. T. 2, S. 209.
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