Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.Siebentes Kapitel. §. 79. müssen 10). Unerachtet dieses ganz einzige Verhältnissdes Johannes zu Jesu eben nur aus dem johanneischen Evangelium erhellt, so liesse sich doch daraus in dem Fall ohne Cirkel auf die Glaubwürdigkeit der von ihm mitge- theilten Reden schliessen, wenn dieses Evangelium nur auf solche Fehler angeklagt wäre, welche aus dem unver- meidlichen Erbleichen der Erinnerung fliessen, weil die positiven Notizen über jenes Verhältniss unmöglich aus dieser bloss negativen Ursache hervorgehen konnten. Da aber der gegen das vierte Evangelium erhobene Verdacht weit über jene Grenze hinaus auf freie Erdichtung geht: so ist in dieser Hinsicht jene nur johanneische Notiz zur Stütze für die johanneischen Reden unbrauchbar. Doch auch jenes Lieblingsverhältniss zugegeben, so reicht es ebensowenig als die Bemerkung, dass Johannes wahrscheinlich in früher Jugend, wo die Eindrücke sich am tiefsten einprägen, zu Jesu gekommen sei, und dass er auch vom Tode Jesu an immer im Kreise der Erinne- rung an denselben gelebt habe 11), hin, um wahrschein- lich zu machen, dass Johannes so lange Gedankenreihen und so verwickelte Dialogen bis auf die Zeit hin habe be- halten können, in welche die Abfassung seines Evange- liums zu setzen ist. Denn darin sind die Kritiker ein- verstanden, dass die Beschaffenheit des vierten Evange- liums, sein Bestreben, den gemeinen Glauben der Chri- sten zur Gnosis zu vergeistigen, und dabei manchen indess hervorgetretenen Verirrungen vorzubeugen, entschieden für eine spätere Abfassung in einer schon reiferen Ent- wicklungsperiode der Kirche, und somit auch im höheren Alter des Apostels, spreche 12). 10) Wegscheider, S. 286; Lücke, S. 195 f. 11) Wegscheider, S. 285. Lücke, a. a. O. 12) Lücke, a. a. O. S. 124 f. 175. Kern, über den Ursprung des
Evang. Matthäi, in der Tüb. Zeitschrift, 1834, 2, S. 109. Siebentes Kapitel. §. 79. müssen 10). Unerachtet dieses ganz einzige Verhältniſsdes Johannes zu Jesu eben nur aus dem johanneischen Evangelium erhellt, so lieſse sich doch daraus in dem Fall ohne Cirkel auf die Glaubwürdigkeit der von ihm mitge- theilten Reden schlieſsen, wenn dieses Evangelium nur auf solche Fehler angeklagt wäre, welche aus dem unver- meidlichen Erbleichen der Erinnerung flieſsen, weil die positiven Notizen über jenes Verhältniſs unmöglich aus dieser bloſs negativen Ursache hervorgehen konnten. Da aber der gegen das vierte Evangelium erhobene Verdacht weit über jene Grenze hinaus auf freie Erdichtung geht: so ist in dieser Hinsicht jene nur johanneische Notiz zur Stütze für die johanneischen Reden unbrauchbar. Doch auch jenes Lieblingsverhältniſs zugegeben, so reicht es ebensowenig als die Bemerkung, daſs Johannes wahrscheinlich in früher Jugend, wo die Eindrücke sich am tiefsten einprägen, zu Jesu gekommen sei, und daſs er auch vom Tode Jesu an immer im Kreise der Erinne- rung an denselben gelebt habe 11), hin, um wahrschein- lich zu machen, daſs Johannes so lange Gedankenreihen und so verwickelte Dialogen bis auf die Zeit hin habe be- halten können, in welche die Abfassung seines Evange- liums zu setzen ist. Denn darin sind die Kritiker ein- verstanden, daſs die Beschaffenheit des vierten Evange- liums, sein Bestreben, den gemeinen Glauben der Chri- sten zur Gnosis zu vergeistigen, und dabei manchen indeſs hervorgetretenen Verirrungen vorzubeugen, entschieden für eine spätere Abfassung in einer schon reiferen Ent- wicklungsperiode der Kirche, und somit auch im höheren Alter des Apostels, spreche 12). 10) Wegscheider, S. 286; Lücke, S. 195 f. 11) Wegscheider, S. 285. Lücke, a. a. O. 12) Lücke, a. a. O. S. 124 f. 175. Kern, über den Ursprung des
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Siebentes Kapitel. §. 79.
müssen 10). Unerachtet dieses ganz einzige Verhältniſs
des Johannes zu Jesu eben nur aus dem johanneischen
Evangelium erhellt, so lieſse sich doch daraus in dem Fall
ohne Cirkel auf die Glaubwürdigkeit der von ihm mitge-
theilten Reden schlieſsen, wenn dieses Evangelium nur
auf solche Fehler angeklagt wäre, welche aus dem unver-
meidlichen Erbleichen der Erinnerung flieſsen, weil die
positiven Notizen über jenes Verhältniſs unmöglich aus
dieser bloſs negativen Ursache hervorgehen konnten. Da
aber der gegen das vierte Evangelium erhobene Verdacht
weit über jene Grenze hinaus auf freie Erdichtung geht:
so ist in dieser Hinsicht jene nur johanneische Notiz
zur Stütze für die johanneischen Reden unbrauchbar.
Doch auch jenes Lieblingsverhältniſs zugegeben, so
reicht es ebensowenig als die Bemerkung, daſs Johannes
wahrscheinlich in früher Jugend, wo die Eindrücke sich
am tiefsten einprägen, zu Jesu gekommen sei, und daſs
er auch vom Tode Jesu an immer im Kreise der Erinne-
rung an denselben gelebt habe 11), hin, um wahrschein-
lich zu machen, daſs Johannes so lange Gedankenreihen
und so verwickelte Dialogen bis auf die Zeit hin habe be-
halten können, in welche die Abfassung seines Evange-
liums zu setzen ist. Denn darin sind die Kritiker ein-
verstanden, daſs die Beschaffenheit des vierten Evange-
liums, sein Bestreben, den gemeinen Glauben der Chri-
sten zur Gnosis zu vergeistigen, und dabei manchen indeſs
hervorgetretenen Verirrungen vorzubeugen, entschieden
für eine spätere Abfassung in einer schon reiferen Ent-
wicklungsperiode der Kirche, und somit auch im höheren
Alter des Apostels, spreche 12).
10) Wegscheider, S. 286; Lücke, S. 195 f.
11) Wegscheider, S. 285. Lücke, a. a. O.
12) Lücke, a. a. O. S. 124 f. 175. Kern, über den Ursprung des
Evang. Matthäi, in der Tüb. Zeitschrift, 1834, 2, S. 109.
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