In ersterer Beziehung hat man die bedeutende Diffe- renz hervorgehoben, welche zwischen den beiderseitigen Reden sowohl dem Inhalt als der Form nach stattfindet. Während Jesus in den drei ersten Evangelien sich aufs Engste an die Bedürfnisse seines hirtenlosen Volks an- schliesse, und demgemäss bald den verderblichen Satzun- gen der Pharisäer gegenüber den sittlichen und religiö- sen Gehalt des mosaischen Gesetzes, bald im Gegensaz gegen die sinnlichen Messiashoffnungen der Zeit das rein- geistige Wesen seines Reichs und die Bedingungen des Eintritts in dasselbe auseinandersetze: drehe er sich im vierten Evangelium immer nur, und oft auf unfruchtbar speculative Weise, um die Lehre von seiner Person und höhern Natur, so dass dem manchfaltigen, bald theoreti- schen, bald praktischen Inhalt der synoptischen Reden Jesu in den johanneischen ein einseitiger Dogmatismus entgegenstehe 15). Dass diess kein totaler Gegensaz sei, sondern sowohl in den synoptischen Reden johanneisch- artige Bestandtheile, als umgekehrt, sich finden, wird man besonnenen Kritikern zugeben müssen 16): aber auch nur das bedeutende Vorwiegen des dogmatischen Elements auf der einen, des praktischen auf der andern Seite be- darf einer gründlichen Erklärung. Gewöhnlich nimmt man hier den Zweck zu Hülfe, welchen Johannes bei Abfassung seines Evangeliums gehabt haben soll, die drei ersten Evangelien zu ergänzen und die von ihnen gelas- senen Lücken auszufüllen. Allein, wenn doch Jesus bald auf die eine Weise, bald auf die andere sprach, warum nahmen sich die Synoptiker fast durchaus nur die prak- tisch populären, Johannes fast ohne Ausnahme nur die dogmatisch speculativen Bestandtheile seiner Reden heraus? Jenes weiss man auf eine Weise zu erklären, die an und für
15)Bretschneider, Probab. S. 2. 3. 31 ff.
16)de Wette, Einl. in das N. T. §. 103; Hase, L. J. §. 7.
Siebentes Kapitel. §. 79.
In ersterer Beziehung hat man die bedeutende Diffe- renz hervorgehoben, welche zwischen den beiderseitigen Reden sowohl dem Inhalt als der Form nach stattfindet. Während Jesus in den drei ersten Evangelien sich aufs Engste an die Bedürfnisse seines hirtenlosen Volks an- schlieſse, und demgemäſs bald den verderblichen Satzun- gen der Pharisäer gegenüber den sittlichen und religiö- sen Gehalt des mosaischen Gesetzes, bald im Gegensaz gegen die sinnlichen Messiashoffnungen der Zeit das rein- geistige Wesen seines Reichs und die Bedingungen des Eintritts in dasselbe auseinandersetze: drehe er sich im vierten Evangelium immer nur, und oft auf unfruchtbar speculative Weise, um die Lehre von seiner Person und höhern Natur, so daſs dem manchfaltigen, bald theoreti- schen, bald praktischen Inhalt der synoptischen Reden Jesu in den johanneischen ein einseitiger Dogmatismus entgegenstehe 15). Daſs dieſs kein totaler Gegensaz sei, sondern sowohl in den synoptischen Reden johanneisch- artige Bestandtheile, als umgekehrt, sich finden, wird man besonnenen Kritikern zugeben müssen 16): aber auch nur das bedeutende Vorwiegen des dogmatischen Elements auf der einen, des praktischen auf der andern Seite be- darf einer gründlichen Erklärung. Gewöhnlich nimmt man hier den Zweck zu Hülfe, welchen Johannes bei Abfassung seines Evangeliums gehabt haben soll, die drei ersten Evangelien zu ergänzen und die von ihnen gelas- senen Lücken auszufüllen. Allein, wenn doch Jesus bald auf die eine Weise, bald auf die andere sprach, warum nahmen sich die Synoptiker fast durchaus nur die prak- tisch populären, Johannes fast ohne Ausnahme nur die dogmatisch speculativen Bestandtheile seiner Reden heraus? Jenes weiſs man auf eine Weise zu erklären, die an und für
15)Bretschneider, Probab. S. 2. 3. 31 ff.
16)de Wette, Einl. in das N. T. §. 103; Hase, L. J. §. 7.
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Siebentes Kapitel. §. 79.
In ersterer Beziehung hat man die bedeutende Diffe-
renz hervorgehoben, welche zwischen den beiderseitigen
Reden sowohl dem Inhalt als der Form nach stattfindet.
Während Jesus in den drei ersten Evangelien sich aufs
Engste an die Bedürfnisse seines hirtenlosen Volks an-
schlieſse, und demgemäſs bald den verderblichen Satzun-
gen der Pharisäer gegenüber den sittlichen und religiö-
sen Gehalt des mosaischen Gesetzes, bald im Gegensaz
gegen die sinnlichen Messiashoffnungen der Zeit das rein-
geistige Wesen seines Reichs und die Bedingungen des
Eintritts in dasselbe auseinandersetze: drehe er sich im
vierten Evangelium immer nur, und oft auf unfruchtbar
speculative Weise, um die Lehre von seiner Person und
höhern Natur, so daſs dem manchfaltigen, bald theoreti-
schen, bald praktischen Inhalt der synoptischen Reden
Jesu in den johanneischen ein einseitiger Dogmatismus
entgegenstehe 15). Daſs dieſs kein totaler Gegensaz sei,
sondern sowohl in den synoptischen Reden johanneisch-
artige Bestandtheile, als umgekehrt, sich finden, wird
man besonnenen Kritikern zugeben müssen 16): aber auch
nur das bedeutende Vorwiegen des dogmatischen Elements
auf der einen, des praktischen auf der andern Seite be-
darf einer gründlichen Erklärung. Gewöhnlich nimmt
man hier den Zweck zu Hülfe, welchen Johannes bei
Abfassung seines Evangeliums gehabt haben soll, die drei
ersten Evangelien zu ergänzen und die von ihnen gelas-
senen Lücken auszufüllen. Allein, wenn doch Jesus bald
auf die eine Weise, bald auf die andere sprach, warum
nahmen sich die Synoptiker fast durchaus nur die prak-
tisch populären, Johannes fast ohne Ausnahme nur die
dogmatisch speculativen Bestandtheile seiner Reden heraus?
Jenes weiſs man auf eine Weise zu erklären, die an und für
15) Bretschneider, Probab. S. 2. 3. 31 ff.
16) de Wette, Einl. in das N. T. §. 103; Hase, L. J. §. 7.
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 671. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/695>, abgerufen am 21.11.2024.
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