Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.Einleitung. §. 12. Zeit, also beiläufig 70 Jahre nach Cyrus Tode, ausser demvon ihm mitgetheilten Berichte solcher über Cyrus, welche nicht darauf ausgehen, semnoun ta peri Kuron, noch tripha- sias allas logon odous phenai. Wenn Heydenreich gegen diese Instanz zuversichtlich fragt, welches von unsern Evangelien denn, wie von den Urhebern der von Herodot verworfenen Berichte nach seinen Worten vorausgesetzt werden müsse, ein boulesthai semnoun ta peri Iesoun zeige? 28) so antworten wir eben so getrost: alle. Wenn er aber weiter mit Paulus bemerkt, dass in dem angeführten Falle der zwischen Faktum und Sagenbildung liegende Zeitraum ungleich grösser sei, als der zwischen Jesu Tod und dem Ursprung unsrer Evangelien anzunehmende 29): so haben wir uns allerdings hiefür keine 70 Jahre erbeten, sondern vorläufig nur dreissig. Wenn aber nun Paulus, als ob das angeführte Beispiel die kürzeste Zeit für mögliche Sagen- bildung angäbe, darauf sogleich die Behauptung baut, dass nur etwa erst in der dritten Generation nach dem Faktum mythische Verschönerungen ihren Anfang nehmen können: so sind ihm aus demselben Herodot die offenbaren Legen- den entgegen zu halten, welche dieser nicht blos über Cy- rus, sondern auch über den nur etwa 30 Jahre hinter der Abfassungszeit seiner Geschichte zurückliegenden zweiten Perserkrieg zu erzählen weiss, wie, dass das von den Bar- baren bedrohte Delphi durch Erdbeben und kämpfende Heroen gerettet worden sei (8, 37 f.); dass der von den Persern verbrannte heilige Oelbaum auf der athenischen Burg über Nacht wieder einen ellenhohen Spross getrieben (8, 55.); dass zum Beginne der Salaminischen Schlacht ein phasma gunaikos mit vernehmlichen Worten aufgefordert habe (8, 84.). Freilich gerade gegen Dr. Paulus ist mit diesen Instanzen wenig auszurichten, da vor seinem Scharf- 28) a. a. O. 2te Abtheilung, S. 55 f. 29) Heydenreich a. a. O. Paulus exeget. Handbuch I, a, S. 61. 5*
Einleitung. §. 12. Zeit, also beiläufig 70 Jahre nach Cyrus Tode, ausser demvon ihm mitgetheilten Berichte solcher über Cyrus, welche nicht darauf ausgehen, σεμνοῦν τὰ περὶ Κῦρον, noch τριφα- σίας ἄλλας λόγων ὁδοὺς φῇναι. Wenn Heydenreich gegen diese Instanz zuversichtlich fragt, welches von unsern Evangelien denn, wie von den Urhebern der von Herodot verworfenen Berichte nach seinen Worten vorausgesetzt werden müsse, ein βούλεσϑαι σεμνοῦν τὰ περὶ Ἰησοῦν zeige? 28) so antworten wir eben so getrost: alle. Wenn er aber weiter mit Paulus bemerkt, daſs in dem angeführten Falle der zwischen Faktum und Sagenbildung liegende Zeitraum ungleich gröſser sei, als der zwischen Jesu Tod und dem Ursprung unsrer Evangelien anzunehmende 29): so haben wir uns allerdings hiefür keine 70 Jahre erbeten, sondern vorläufig nur dreissig. Wenn aber nun Paulus, als ob das angeführte Beispiel die kürzeste Zeit für mögliche Sagen- bildung angäbe, darauf sogleich die Behauptung baut, daſs nur etwa erst in der dritten Generation nach dem Faktum mythische Verschönerungen ihren Anfang nehmen können: so sind ihm aus demselben Herodot die offenbaren Legen- den entgegen zu halten, welche dieser nicht blos über Cy- rus, sondern auch über den nur etwa 30 Jahre hinter der Abfassungszeit seiner Geschichte zurückliegenden zweiten Perserkrieg zu erzählen weiſs, wie, daſs das von den Bar- baren bedrohte Delphi durch Erdbeben und kämpfende Heroën gerettet worden sei (8, 37 f.); daſs der von den Persern verbrannte heilige Oelbaum auf der athenischen Burg über Nacht wieder einen ellenhohen Sproſs getrieben (8, 55.); daſs zum Beginne der Salaminischen Schlacht ein φάσμα γυναικὸς mit vernehmlichen Worten aufgefordert habe (8, 84.). Freilich gerade gegen Dr. Paulus ist mit diesen Instanzen wenig auszurichten, da vor seinem Scharf- 28) a. a. O. 2te Abtheilung, S. 55 f. 29) Heydenreich a. a. O. Paulus exeget. Handbuch I, a, S. 61. 5*
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0091" n="67"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Einleitung</hi>. §. 12.</fw><lb/> Zeit, also beiläufig 70 Jahre nach Cyrus Tode, ausser dem<lb/> von ihm mitgetheilten Berichte solcher über Cyrus, welche<lb/> nicht darauf ausgehen, <foreign xml:lang="ell">σεμνοῦν τὰ περὶ Κῦρον</foreign>, noch <foreign xml:lang="ell">τριφα-<lb/> σίας ἄλλας λόγων ὁδοὺς φῇναι</foreign>. Wenn <hi rendition="#k">Heydenreich</hi> gegen<lb/> diese Instanz zuversichtlich fragt, welches von unsern<lb/> Evangelien denn, wie von den Urhebern der von Herodot<lb/> verworfenen Berichte nach seinen Worten vorausgesetzt<lb/> werden müsse, ein βούλεσϑαι σεμνοῦν τὰ περὶ Ἰησοῦν zeige? <note place="foot" n="28)">a. a. O. 2te Abtheilung, S. 55 f.</note><lb/> so antworten wir eben so getrost: alle. Wenn er aber<lb/> weiter mit <hi rendition="#k">Paulus</hi> bemerkt, daſs in dem angeführten Falle<lb/> der zwischen Faktum und Sagenbildung liegende Zeitraum<lb/> ungleich gröſser sei, als der zwischen Jesu Tod und dem<lb/> Ursprung unsrer Evangelien anzunehmende <note place="foot" n="29)"><hi rendition="#k">Heydenreich</hi> a. a. O. <hi rendition="#k">Paulus</hi> exeget. Handbuch I, a, S. 61.</note>: so haben<lb/> wir uns allerdings hiefür keine 70 Jahre erbeten, sondern<lb/> vorläufig nur dreissig. Wenn aber nun <hi rendition="#k">Paulus</hi>, als ob das<lb/> angeführte Beispiel die kürzeste Zeit für mögliche Sagen-<lb/> bildung angäbe, darauf sogleich die Behauptung baut, daſs<lb/> nur etwa erst in der dritten Generation nach dem Faktum<lb/> mythische Verschönerungen ihren Anfang nehmen können:<lb/> so sind ihm aus demselben Herodot die offenbaren Legen-<lb/> den entgegen zu halten, welche dieser nicht blos über Cy-<lb/> rus, sondern auch über den nur etwa 30 Jahre hinter der<lb/> Abfassungszeit seiner Geschichte zurückliegenden zweiten<lb/> Perserkrieg zu erzählen weiſs, wie, daſs das von den Bar-<lb/> baren bedrohte Delphi durch Erdbeben und kämpfende<lb/> Heroën gerettet worden sei (8, 37 f.); daſs der von den<lb/> Persern verbrannte heilige Oelbaum auf der athenischen<lb/> Burg über Nacht wieder einen ellenhohen Sproſs getrieben<lb/> (8, 55.); daſs zum Beginne der Salaminischen Schlacht ein<lb/> φάσμα γυναικὸς mit vernehmlichen Worten aufgefordert<lb/> habe (8, 84.). Freilich gerade gegen Dr. <hi rendition="#k">Paulus</hi> ist mit<lb/> diesen Instanzen wenig auszurichten, da vor seinem Scharf-<lb/> <fw place="bottom" type="sig">5*</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [67/0091]
Einleitung. §. 12.
Zeit, also beiläufig 70 Jahre nach Cyrus Tode, ausser dem
von ihm mitgetheilten Berichte solcher über Cyrus, welche
nicht darauf ausgehen, σεμνοῦν τὰ περὶ Κῦρον, noch τριφα-
σίας ἄλλας λόγων ὁδοὺς φῇναι. Wenn Heydenreich gegen
diese Instanz zuversichtlich fragt, welches von unsern
Evangelien denn, wie von den Urhebern der von Herodot
verworfenen Berichte nach seinen Worten vorausgesetzt
werden müsse, ein βούλεσϑαι σεμνοῦν τὰ περὶ Ἰησοῦν zeige? 28)
so antworten wir eben so getrost: alle. Wenn er aber
weiter mit Paulus bemerkt, daſs in dem angeführten Falle
der zwischen Faktum und Sagenbildung liegende Zeitraum
ungleich gröſser sei, als der zwischen Jesu Tod und dem
Ursprung unsrer Evangelien anzunehmende 29): so haben
wir uns allerdings hiefür keine 70 Jahre erbeten, sondern
vorläufig nur dreissig. Wenn aber nun Paulus, als ob das
angeführte Beispiel die kürzeste Zeit für mögliche Sagen-
bildung angäbe, darauf sogleich die Behauptung baut, daſs
nur etwa erst in der dritten Generation nach dem Faktum
mythische Verschönerungen ihren Anfang nehmen können:
so sind ihm aus demselben Herodot die offenbaren Legen-
den entgegen zu halten, welche dieser nicht blos über Cy-
rus, sondern auch über den nur etwa 30 Jahre hinter der
Abfassungszeit seiner Geschichte zurückliegenden zweiten
Perserkrieg zu erzählen weiſs, wie, daſs das von den Bar-
baren bedrohte Delphi durch Erdbeben und kämpfende
Heroën gerettet worden sei (8, 37 f.); daſs der von den
Persern verbrannte heilige Oelbaum auf der athenischen
Burg über Nacht wieder einen ellenhohen Sproſs getrieben
(8, 55.); daſs zum Beginne der Salaminischen Schlacht ein
φάσμα γυναικὸς mit vernehmlichen Worten aufgefordert
habe (8, 84.). Freilich gerade gegen Dr. Paulus ist mit
diesen Instanzen wenig auszurichten, da vor seinem Scharf-
28) a. a. O. 2te Abtheilung, S. 55 f.
29) Heydenreich a. a. O. Paulus exeget. Handbuch I, a, S. 61.
5*
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |