zulässiges argumentum ex silentio, welches, um einiges Gewicht zu bekommen, durch innere Gründe verstärkt werden müsste 26); so dass Lukas immerhin sein Evange- lium möglicherweise viel später, und zu einer Zeit geschrie- ben haben könnte, in welcher er der Unterstützung des Paulus (der übrigens mit den Thatsachen des Lebens Jesu nur mittelbar, und wegen seines seltenen Zusammenseins mit Aposteln auch nur unvollkommen bekannt gewesen zu sein scheint), und ebenso der übrigen Augenzeugen ent- behrte, also der Möglichkeit ausgesetzt war, im Geiste seiner Zeit mythische Elemente unter die historischen aufzunehmen.
Ist somit, die Augenzeugenschaft, oder ein solches Verhältniss zu Augenzeugen, welches die Aufnahme von Mythen undenkbar machte, von keinem der Verfasser unsrer Evangelien durch äussere Zeugnisse streng zu be- weisen: so fragt sich noch, ob nicht, abgesehen von den Verfassern, die Zeit ihrer Abfassung so frühe zu setzen ist, dass sie die Annahme mythischer Nachrichten in den- selben unmöglich macht? Da diess, in Ermanglung ver- lässlicher Zeugnisse, nur aus der inneren Beschaffenheit der Evangelien erhellen kann: so wollen wir uns, um der folgenden Untersuchung nicht vorzugreifen, vorläufig nur etwa dreissig Jahre Zwischenzeit zwischen Jesu Tod und der Entstehung unsrer Evangelien ausbedingen. Wer die Möglichkeit der Entstehung von Mythen in dieser Zwi- schenzeit leugnete, der würde, um mit Usteri27) zu re- den, wenig Kenntniss davon verrathen, wie kurze Zeit dazu nöthig ist, dass nicht etwa blos verborgene und ge- heime, sondern öffentliche und bekannte Thatsachen durch die Tradition eine neue Wendung und einen Anstrich des Wunderbaren erhalten, wenn einmal die Gemüther hiezu disponirt sind. Herodot bezeugt (1, 95.), dass zu seiner
26) Vgl. de Wette, Einleitung in das N. T. §. 116.
27) In Ullmann's und Umbreit's theol. Studien und Kritiken, Jahr- gang 1832, 4tes Heft, S. 787 f.
Einleitung. §. 12.
zulässiges argumentum ex silentio, welches, um einiges Gewicht zu bekommen, durch innere Gründe verstärkt werden müſste 26); so daſs Lukas immerhin sein Evange- lium möglicherweise viel später, und zu einer Zeit geschrie- ben haben könnte, in welcher er der Unterstützung des Paulus (der übrigens mit den Thatsachen des Lebens Jesu nur mittelbar, und wegen seines seltenen Zusammenseins mit Aposteln auch nur unvollkommen bekannt gewesen zu sein scheint), und ebenso der übrigen Augenzeugen ent- behrte, also der Möglichkeit ausgesetzt war, im Geiste seiner Zeit mythische Elemente unter die historischen aufzunehmen.
Ist somit, die Augenzeugenschaft, oder ein solches Verhältniſs zu Augenzeugen, welches die Aufnahme von Mythen undenkbar machte, von keinem der Verfasser unsrer Evangelien durch äussere Zeugnisse streng zu be- weisen: so fragt sich noch, ob nicht, abgesehen von den Verfassern, die Zeit ihrer Abfassung so frühe zu setzen ist, daſs sie die Annahme mythischer Nachrichten in den- selben unmöglich macht? Da dieſs, in Ermanglung ver- läſslicher Zeugnisse, nur aus der inneren Beschaffenheit der Evangelien erhellen kann: so wollen wir uns, um der folgenden Untersuchung nicht vorzugreifen, vorläufig nur etwa dreissig Jahre Zwischenzeit zwischen Jesu Tod und der Entstehung unsrer Evangelien ausbedingen. Wer die Möglichkeit der Entstehung von Mythen in dieser Zwi- schenzeit leugnete, der würde, um mit Usteri27) zu re- den, wenig Kenntniſs davon verrathen, wie kurze Zeit dazu nöthig ist, daſs nicht etwa blos verborgene und ge- heime, sondern öffentliche und bekannte Thatsachen durch die Tradition eine neue Wendung und einen Anstrich des Wunderbaren erhalten, wenn einmal die Gemüther hiezu disponirt sind. Herodot bezeugt (1, 95.), daſs zu seiner
26) Vgl. de Wette, Einleitung in das N. T. §. 116.
27) In Ullmann's und Umbreit's theol. Studien und Kritiken, Jahr- gang 1832, 4tes Heft, S. 787 f.
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Einleitung. §. 12.
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lium möglicherweise viel später, und zu einer Zeit geschrie-
ben haben könnte, in welcher er der Unterstützung des
Paulus (der übrigens mit den Thatsachen des Lebens Jesu
nur mittelbar, und wegen seines seltenen Zusammenseins
mit Aposteln auch nur unvollkommen bekannt gewesen zu
sein scheint), und ebenso der übrigen Augenzeugen ent-
behrte, also der Möglichkeit ausgesetzt war, im Geiste seiner
Zeit mythische Elemente unter die historischen aufzunehmen.
Ist somit, die Augenzeugenschaft, oder ein solches
Verhältniſs zu Augenzeugen, welches die Aufnahme von
Mythen undenkbar machte, von keinem der Verfasser
unsrer Evangelien durch äussere Zeugnisse streng zu be-
weisen: so fragt sich noch, ob nicht, abgesehen von den
Verfassern, die Zeit ihrer Abfassung so frühe zu setzen
ist, daſs sie die Annahme mythischer Nachrichten in den-
selben unmöglich macht? Da dieſs, in Ermanglung ver-
läſslicher Zeugnisse, nur aus der inneren Beschaffenheit
der Evangelien erhellen kann: so wollen wir uns, um der
folgenden Untersuchung nicht vorzugreifen, vorläufig nur
etwa dreissig Jahre Zwischenzeit zwischen Jesu Tod und
der Entstehung unsrer Evangelien ausbedingen. Wer die
Möglichkeit der Entstehung von Mythen in dieser Zwi-
schenzeit leugnete, der würde, um mit Usteri 27) zu re-
den, wenig Kenntniſs davon verrathen, wie kurze Zeit
dazu nöthig ist, daſs nicht etwa blos verborgene und ge-
heime, sondern öffentliche und bekannte Thatsachen durch
die Tradition eine neue Wendung und einen Anstrich des
Wunderbaren erhalten, wenn einmal die Gemüther hiezu
disponirt sind. Herodot bezeugt (1, 95.), daſs zu seiner
26) Vgl. de Wette, Einleitung in das N. T. §. 116.
27) In Ullmann's und Umbreit's theol. Studien und Kritiken, Jahr-
gang 1832, 4tes Heft, S. 787 f.
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/90>, abgerufen am 24.11.2024.
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