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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Zweiter Abschnitt.
loren haben 4). Allein wer wird sich die schüchterne Be-
rührung einer kranken Frau, deren Absicht war, verbor-
gen zu bleiben, und deren Glaube auch durch das leiseste
Anstreifen Heilung zu erlangen gewiss war, als ein Anfas-
sen, das Jesum im Gehen aufhielt, vorstellen? was für ein
mächtiges Vertrauen ferner auf die Macht des Vertrauens
gehört zu der Annahme, dass es ohne Hinzutritt einer rea-
len Kraft von Seiten Jesu einen zwölfjährigen Blutfluss
geheilt oder auch nur gemindert habe? endlich aber, wenn
die Evangelisten einen selbstgemachten Schluss (dass eine
Kraft von ihm ausgegangen) Jesu in den Mund gelegt, und
eine nur successiv eingetretene Wiederherstellung als eine
momentane beschrieben haben sollen: so fällt mit dem Auf-
geben dieser Züge die Bürgschaft für die historische Rea-
lität der ganzen Erzählung, aber ebendamit auch die Ver-
anlassung hinweg, sich mit der natürlichen Erklärung ver-
gebliche Mühe zu machen.

In der That auch, betrachten wir nur die vorliegende
Erzählung etwas näher, und vergleichen sie mit verwand-
ten Anekdoten, so können wir über ihren eigentlichen Cha-
rakter nicht im Zweifel bleiben. Wie hier und an eini-
gen andern Stellen von Jesu erzählt wird, dass durch blo-
se Berührung seines Kleides Kranke genesen seien: so be-
richtet die Apostelgeschichte, dass die soudaria und simi-
kinthia des Paulus, wenn man sie auflegte (19, 11 f.), und
von Petrus selbst der Schatten, wenn er auf einen fiel
(5, 15.), Kranke aller Art gesund gemacht habe, und apo-
kryphische Evangelien lassen durch die Windeln und das
Waschwasser des Kindes Jesu eine Masse von Kuren ver-
richtet werden 5). Von diesen lezteren Geschichten weiss
Jedermann, dass er sich mit denselben auf dem Gebiet der

4) Paulus, ex. Handb. 1, b, S. 524 f. 530; L. J. 1, a, S. 244 f.;
Venturini, 2, S. 204 ff.; Köster a. a. O.
5) s. das Evangelium infantiae arabicum.

Zweiter Abschnitt.
loren haben 4). Allein wer wird sich die schüchterne Be-
rührung einer kranken Frau, deren Absicht war, verbor-
gen zu bleiben, und deren Glaube auch durch das leiseste
Anstreifen Heilung zu erlangen gewiſs war, als ein Anfas-
sen, das Jesum im Gehen aufhielt, vorstellen? was für ein
mächtiges Vertrauen ferner auf die Macht des Vertrauens
gehört zu der Annahme, daſs es ohne Hinzutritt einer rea-
len Kraft von Seiten Jesu einen zwölfjährigen Blutfluſs
geheilt oder auch nur gemindert habe? endlich aber, wenn
die Evangelisten einen selbstgemachten Schluſs (daſs eine
Kraft von ihm ausgegangen) Jesu in den Mund gelegt, und
eine nur successiv eingetretene Wiederherstellung als eine
momentane beschrieben haben sollen: so fällt mit dem Auf-
geben dieser Züge die Bürgschaft für die historische Rea-
lität der ganzen Erzählung, aber ebendamit auch die Ver-
anlassung hinweg, sich mit der natürlichen Erklärung ver-
gebliche Mühe zu machen.

In der That auch, betrachten wir nur die vorliegende
Erzählung etwas näher, und vergleichen sie mit verwand-
ten Anekdoten, so können wir über ihren eigentlichen Cha-
rakter nicht im Zweifel bleiben. Wie hier und an eini-
gen andern Stellen von Jesu erzählt wird, daſs durch blo-
se Berührung seines Kleides Kranke genesen seien: so be-
richtet die Apostelgeschichte, daſs die σουδάρια und σιμι-
κίνϑια des Paulus, wenn man sie auflegte (19, 11 f.), und
von Petrus selbst der Schatten, wenn er auf einen fiel
(5, 15.), Kranke aller Art gesund gemacht habe, und apo-
kryphische Evangelien lassen durch die Windeln und das
Waschwasser des Kindes Jesu eine Masse von Kuren ver-
richtet werden 5). Von diesen lezteren Geschichten weiſs
Jedermann, daſs er sich mit denselben auf dem Gebiet der

4) Paulus, ex. Handb. 1, b, S. 524 f. 530; L. J. 1, a, S. 244 f.;
Venturini, 2, S. 204 ff.; Köster a. a. O.
5) s. das Evangelium infantiae arabicum.
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[100/0119] Zweiter Abschnitt. loren haben 4). Allein wer wird sich die schüchterne Be- rührung einer kranken Frau, deren Absicht war, verbor- gen zu bleiben, und deren Glaube auch durch das leiseste Anstreifen Heilung zu erlangen gewiſs war, als ein Anfas- sen, das Jesum im Gehen aufhielt, vorstellen? was für ein mächtiges Vertrauen ferner auf die Macht des Vertrauens gehört zu der Annahme, daſs es ohne Hinzutritt einer rea- len Kraft von Seiten Jesu einen zwölfjährigen Blutfluſs geheilt oder auch nur gemindert habe? endlich aber, wenn die Evangelisten einen selbstgemachten Schluſs (daſs eine Kraft von ihm ausgegangen) Jesu in den Mund gelegt, und eine nur successiv eingetretene Wiederherstellung als eine momentane beschrieben haben sollen: so fällt mit dem Auf- geben dieser Züge die Bürgschaft für die historische Rea- lität der ganzen Erzählung, aber ebendamit auch die Ver- anlassung hinweg, sich mit der natürlichen Erklärung ver- gebliche Mühe zu machen. In der That auch, betrachten wir nur die vorliegende Erzählung etwas näher, und vergleichen sie mit verwand- ten Anekdoten, so können wir über ihren eigentlichen Cha- rakter nicht im Zweifel bleiben. Wie hier und an eini- gen andern Stellen von Jesu erzählt wird, daſs durch blo- se Berührung seines Kleides Kranke genesen seien: so be- richtet die Apostelgeschichte, daſs die σουδάρια und σιμι- κίνϑια des Paulus, wenn man sie auflegte (19, 11 f.), und von Petrus selbst der Schatten, wenn er auf einen fiel (5, 15.), Kranke aller Art gesund gemacht habe, und apo- kryphische Evangelien lassen durch die Windeln und das Waschwasser des Kindes Jesu eine Masse von Kuren ver- richtet werden 5). Von diesen lezteren Geschichten weiſs Jedermann, daſs er sich mit denselben auf dem Gebiet der 4) Paulus, ex. Handb. 1, b, S. 524 f. 530; L. J. 1, a, S. 244 f.; Venturini, 2, S. 204 ff.; Köster a. a. O. 5) s. das Evangelium infantiae arabicum.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/119>, abgerufen am 24.11.2024.