Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.Neuntes Kapitel. §. 96. ger. Zwar die Anrede der Martha an ihn (V. 21 f.): wä-re er zugegen gewesen, so würde ihr Bruder nicht gestor- ben sein, alla kai nun oida, oti, osa an aitese ton theon, dosei soi o theos, scheint unverkennbar die Hoffnung aus- zusprechen, dass Jesus auch den schon Gestorbenen in das Leben zurückzurufen vermöge; allein dass sie auf die fol- gende Zusicherung Jesu: anasesetai o adelphos sou, klein- müthig erwiedert: ja, am jüngsten Tage (V. 24.), thut al- lerdings einer Erklärung Vorschub, welche nun rückwärts auch der obigen Äusserung der Martha (V. 22.) den unbe- stimmten Sinn unterlegt, auch jezt noch, unerachtet er ihren Bruder nicht bei'm Leben erhalten habe, glaube sie an Jesum als an denjenigen, welchem Gott Alles, was er bitte, gewähre, d. h. als den Liebling der Gottheit, den Messias. Allein nicht piseuo sagte Martha dort, sondern oida, und die Wendung: ich weiss, dass das und das ge- schieht, wenn du nur willst, ist eine gewöhnliche indirekte Form der Bitte, und hier um so unverkennbarer, da der Gegenstand der Bitte aus dem vorausgeschickten Gegensatze dahin klar wird, dass Martha sagen will: den Tod des Bruders zwar hast du nicht verhindert, aber auch jezt ist es noch nicht zu spät, sondern auf deine Bitte wird ihn Gott dir und uns wieder schenken. Ein Wechsel der Stim- mung, wie er dann in Martha angenommen werden muss, deren kaum geäusserte Hoffnung in der Erwiederung V. 24. bereits wieder erloschen ist, kann bei einem Weibe, wel- ches hier und sonst als von sehr beweglicher Natur sich zeigt, nicht zu sehr befremden, und wird in unserem Falle durch die Form der vorangegangenen Zusicherung Jesu (V. 23.) hinlänglich erklärt. Auf ihre indirekte Bitte näm- lich hatte Martha eine bestimmte gewährende Zusage er- wartet: da nun Jesus nur ganz allgemein und mit einem Ausdruck antwortet, welchen man auf die Auferstehung am Ende der Dinge zu beziehen gewohnt war (anasesetai), so giebt sie halb empfindlich halb kleinmüthig jene Erklä- Das Leben Jesu II. Band. 10
Neuntes Kapitel. §. 96. ger. Zwar die Anrede der Martha an ihn (V. 21 f.): wä-re er zugegen gewesen, so würde ihr Bruder nicht gestor- ben sein, ἀλλὰ καὶ νῦν οἶδα, ὅτι, ὅσα ἂν αἰτήσῃ τὸν ϑεὸν, δώσει σοι ὁ ϑεὸς, scheint unverkennbar die Hoffnung aus- zusprechen, daſs Jesus auch den schon Gestorbenen in das Leben zurückzurufen vermöge; allein daſs sie auf die fol- gende Zusicherung Jesu: ἀναςήσεται ὁ ἀδελφός σου, klein- müthig erwiedert: ja, am jüngsten Tage (V. 24.), thut al- lerdings einer Erklärung Vorschub, welche nun rückwärts auch der obigen Äusserung der Martha (V. 22.) den unbe- stimmten Sinn unterlegt, auch jezt noch, unerachtet er ihren Bruder nicht bei'm Leben erhalten habe, glaube sie an Jesum als an denjenigen, welchem Gott Alles, was er bitte, gewähre, d. h. als den Liebling der Gottheit, den Messias. Allein nicht πιςεύω sagte Martha dort, sondern οἶδα, und die Wendung: ich weiſs, daſs das und das ge- schieht, wenn du nur willst, ist eine gewöhnliche indirekte Form der Bitte, und hier um so unverkennbarer, da der Gegenstand der Bitte aus dem vorausgeschickten Gegensatze dahin klar wird, daſs Martha sagen will: den Tod des Bruders zwar hast du nicht verhindert, aber auch jezt ist es noch nicht zu spät, sondern auf deine Bitte wird ihn Gott dir und uns wieder schenken. Ein Wechsel der Stim- mung, wie er dann in Martha angenommen werden muſs, deren kaum geäusserte Hoffnung in der Erwiederung V. 24. bereits wieder erloschen ist, kann bei einem Weibe, wel- ches hier und sonst als von sehr beweglicher Natur sich zeigt, nicht zu sehr befremden, und wird in unserem Falle durch die Form der vorangegangenen Zusicherung Jesu (V. 23.) hinlänglich erklärt. Auf ihre indirekte Bitte näm- lich hatte Martha eine bestimmte gewährende Zusage er- wartet: da nun Jesus nur ganz allgemein und mit einem Ausdruck antwortet, welchen man auf die Auferstehung am Ende der Dinge zu beziehen gewohnt war (ἀναςήσεται), so giebt sie halb empfindlich halb kleinmüthig jene Erklä- Das Leben Jesu II. Band. 10
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0164" n="145"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Neuntes Kapitel</hi>. §. 96.</fw><lb/> ger. Zwar die Anrede der Martha an ihn (V. 21 f.): wä-<lb/> re er zugegen gewesen, so würde ihr Bruder nicht gestor-<lb/> ben sein, <foreign xml:lang="ell">ἀλλὰ καὶ νῦν οἶδα, ὅτι, ὅσα ἂν αἰτήσῃ τὸν ϑεὸν,<lb/> δώσει σοι ὁ ϑεὸς</foreign>, scheint unverkennbar die Hoffnung aus-<lb/> zusprechen, daſs Jesus auch den schon Gestorbenen in das<lb/> Leben zurückzurufen vermöge; allein daſs sie auf die fol-<lb/> gende Zusicherung Jesu: <foreign xml:lang="ell">ἀναςήσεται ὁ ἀδελφός σου</foreign>, klein-<lb/> müthig erwiedert: ja, am jüngsten Tage (V. 24.), thut al-<lb/> lerdings einer Erklärung Vorschub, welche nun rückwärts<lb/> auch der obigen Äusserung der Martha (V. 22.) den unbe-<lb/> stimmten Sinn unterlegt, auch jezt noch, unerachtet er<lb/> ihren Bruder nicht bei'm Leben erhalten habe, glaube sie<lb/> an Jesum als an denjenigen, welchem Gott Alles, was er<lb/> bitte, gewähre, d. h. als den Liebling der Gottheit, den<lb/> Messias. Allein nicht πιςεύω sagte Martha dort, sondern<lb/><foreign xml:lang="ell">οἶδα</foreign>, und die Wendung: ich weiſs, daſs das und das ge-<lb/> schieht, wenn du nur willst, ist eine gewöhnliche indirekte<lb/> Form der Bitte, und hier um so unverkennbarer, da der<lb/> Gegenstand der Bitte aus dem vorausgeschickten Gegensatze<lb/> dahin klar wird, daſs Martha sagen will: den Tod des<lb/> Bruders zwar hast du nicht verhindert, aber auch jezt ist<lb/> es noch nicht zu spät, sondern auf deine Bitte wird ihn<lb/> Gott dir und uns wieder schenken. Ein Wechsel der Stim-<lb/> mung, wie er dann in Martha angenommen werden muſs,<lb/> deren kaum geäusserte Hoffnung in der Erwiederung V. 24.<lb/> bereits wieder erloschen ist, kann bei einem Weibe, wel-<lb/> ches hier und sonst als von sehr beweglicher Natur sich<lb/> zeigt, nicht zu sehr befremden, und wird in unserem Falle<lb/> durch die Form der vorangegangenen Zusicherung Jesu<lb/> (V. 23.) hinlänglich erklärt. Auf ihre indirekte Bitte näm-<lb/> lich hatte Martha eine bestimmte gewährende Zusage er-<lb/> wartet: da nun Jesus nur ganz allgemein und mit einem<lb/> Ausdruck antwortet, welchen man auf die Auferstehung<lb/> am Ende der Dinge zu beziehen gewohnt war (ἀναςήσεται),<lb/> so giebt sie halb empfindlich halb kleinmüthig jene Erklä-<lb/> <fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#i">Das Leben Jesu II. Band.</hi> 10</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [145/0164]
Neuntes Kapitel. §. 96.
ger. Zwar die Anrede der Martha an ihn (V. 21 f.): wä-
re er zugegen gewesen, so würde ihr Bruder nicht gestor-
ben sein, ἀλλὰ καὶ νῦν οἶδα, ὅτι, ὅσα ἂν αἰτήσῃ τὸν ϑεὸν,
δώσει σοι ὁ ϑεὸς, scheint unverkennbar die Hoffnung aus-
zusprechen, daſs Jesus auch den schon Gestorbenen in das
Leben zurückzurufen vermöge; allein daſs sie auf die fol-
gende Zusicherung Jesu: ἀναςήσεται ὁ ἀδελφός σου, klein-
müthig erwiedert: ja, am jüngsten Tage (V. 24.), thut al-
lerdings einer Erklärung Vorschub, welche nun rückwärts
auch der obigen Äusserung der Martha (V. 22.) den unbe-
stimmten Sinn unterlegt, auch jezt noch, unerachtet er
ihren Bruder nicht bei'm Leben erhalten habe, glaube sie
an Jesum als an denjenigen, welchem Gott Alles, was er
bitte, gewähre, d. h. als den Liebling der Gottheit, den
Messias. Allein nicht πιςεύω sagte Martha dort, sondern
οἶδα, und die Wendung: ich weiſs, daſs das und das ge-
schieht, wenn du nur willst, ist eine gewöhnliche indirekte
Form der Bitte, und hier um so unverkennbarer, da der
Gegenstand der Bitte aus dem vorausgeschickten Gegensatze
dahin klar wird, daſs Martha sagen will: den Tod des
Bruders zwar hast du nicht verhindert, aber auch jezt ist
es noch nicht zu spät, sondern auf deine Bitte wird ihn
Gott dir und uns wieder schenken. Ein Wechsel der Stim-
mung, wie er dann in Martha angenommen werden muſs,
deren kaum geäusserte Hoffnung in der Erwiederung V. 24.
bereits wieder erloschen ist, kann bei einem Weibe, wel-
ches hier und sonst als von sehr beweglicher Natur sich
zeigt, nicht zu sehr befremden, und wird in unserem Falle
durch die Form der vorangegangenen Zusicherung Jesu
(V. 23.) hinlänglich erklärt. Auf ihre indirekte Bitte näm-
lich hatte Martha eine bestimmte gewährende Zusage er-
wartet: da nun Jesus nur ganz allgemein und mit einem
Ausdruck antwortet, welchen man auf die Auferstehung
am Ende der Dinge zu beziehen gewohnt war (ἀναςήσεται),
so giebt sie halb empfindlich halb kleinmüthig jene Erklä-
Das Leben Jesu II. Band. 10
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |