also hätten diese Fälle näher gelegen: da der vierte Evan- gelist sie auf etwas weit weniger Naheliegendes sich be- rufen lässt, so wird wahrscheinlich, dass er von jenen Vorgängen nichts gewusst hat; denn dass die Berufung nur ihm, nicht den Juden selber angehört, zeigt sich schon darin, dass er sie gerade auf diejenige Heilung sich bezie- hen lässt, welche er nächstzuvor erzählt hatte.
Ein starker Anstoss liegt auch in dem Gebete, welches V. 41 f. Jesu in den Mund gelegt wird. Nachdem er dem Vater für die Erhörung gedankt, sezt er hinzu, er für sich wisse wohl, dass der Vater ihn jederzeit erhöre, und nur um des Volkes willen, um ihm Glauben an seine göttliche Sendung beizubringen, spreche er diesen besonderen Dank aus. Zuerst also giebt er seiner Rede eine Beziehung auf Gott, hinterher aber sezt er diese Beziehung zu einer nur um des Volks willen gemachten herunter. Und diess nicht nur so, wie Lücke will, dass Jesus für sich zwar bloss still gebetet haben würde, um des Volks willen aber sein Gebet laut spreche (denn für das bloss stille Beten liegt in der Gewissheit der Erhörung kein Grund), sondern in dem Sinne, dass er für sich dem Vater nicht für einen einzelnen Erfolg, wie gleichsam überrascht, zu danken brauche, da er der Gewährung im Voraus gewiss sei, also Wunsch und Dank zusammenfallen, überhaupt sein Verhältniss zum Vater nicht in einzelnen Akten der Bitte, der Erhörung und des Danks sich bewege, sondern ein beständiger und stetiger Austausch dieser gegenseitigen Funktionen sei, aus wel- chem an und für sich kein einzelner Dankakt in dieser Weise sich aussondern würde. Wenn nun allerdings in Bezug auf die Bedürfnisse des Volks und aus Sympathie mit demselben in Jesu ein solcher einzelner Akt hervorge- treten sein könnte: so müsste doch, wenn in dieser Stel- lung Wahrheit gewesen sein soll, Jesus ganz im Mitgefühl aufgegangen sein, den Standpunkt des Volks zu dem sei- nigen gemacht, und so in jenem Augenblicke doch auch
Zweiter Abschnitt.
also hätten diese Fälle näher gelegen: da der vierte Evan- gelist sie auf etwas weit weniger Naheliegendes sich be- rufen läſst, so wird wahrscheinlich, daſs er von jenen Vorgängen nichts gewuſst hat; denn daſs die Berufung nur ihm, nicht den Juden selber angehört, zeigt sich schon darin, daſs er sie gerade auf diejenige Heilung sich bezie- hen läſst, welche er nächstzuvor erzählt hatte.
Ein starker Anstoſs liegt auch in dem Gebete, welches V. 41 f. Jesu in den Mund gelegt wird. Nachdem er dem Vater für die Erhörung gedankt, sezt er hinzu, er für sich wisse wohl, daſs der Vater ihn jederzeit erhöre, und nur um des Volkes willen, um ihm Glauben an seine göttliche Sendung beizubringen, spreche er diesen besonderen Dank aus. Zuerst also giebt er seiner Rede eine Beziehung auf Gott, hinterher aber sezt er diese Beziehung zu einer nur um des Volks willen gemachten herunter. Und dieſs nicht nur so, wie Lücke will, daſs Jesus für sich zwar bloſs still gebetet haben würde, um des Volks willen aber sein Gebet laut spreche (denn für das bloſs stille Beten liegt in der Gewiſsheit der Erhörung kein Grund), sondern in dem Sinne, daſs er für sich dem Vater nicht für einen einzelnen Erfolg, wie gleichsam überrascht, zu danken brauche, da er der Gewährung im Voraus gewiſs sei, also Wunsch und Dank zusammenfallen, überhaupt sein Verhältniſs zum Vater nicht in einzelnen Akten der Bitte, der Erhörung und des Danks sich bewege, sondern ein beständiger und stetiger Austausch dieser gegenseitigen Funktionen sei, aus wel- chem an und für sich kein einzelner Dankakt in dieser Weise sich aussondern würde. Wenn nun allerdings in Bezug auf die Bedürfnisse des Volks und aus Sympathie mit demselben in Jesu ein solcher einzelner Akt hervorge- treten sein könnte: so müſste doch, wenn in dieser Stel- lung Wahrheit gewesen sein soll, Jesus ganz im Mitgefühl aufgegangen sein, den Standpunkt des Volks zu dem sei- nigen gemacht, und so in jenem Augenblicke doch auch
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Zweiter Abschnitt.
also hätten diese Fälle näher gelegen: da der vierte Evan-
gelist sie auf etwas weit weniger Naheliegendes sich be-
rufen läſst, so wird wahrscheinlich, daſs er von jenen
Vorgängen nichts gewuſst hat; denn daſs die Berufung nur
ihm, nicht den Juden selber angehört, zeigt sich schon
darin, daſs er sie gerade auf diejenige Heilung sich bezie-
hen läſst, welche er nächstzuvor erzählt hatte.
Ein starker Anstoſs liegt auch in dem Gebete, welches
V. 41 f. Jesu in den Mund gelegt wird. Nachdem er dem
Vater für die Erhörung gedankt, sezt er hinzu, er für sich
wisse wohl, daſs der Vater ihn jederzeit erhöre, und nur
um des Volkes willen, um ihm Glauben an seine göttliche
Sendung beizubringen, spreche er diesen besonderen Dank
aus. Zuerst also giebt er seiner Rede eine Beziehung auf
Gott, hinterher aber sezt er diese Beziehung zu einer nur
um des Volks willen gemachten herunter. Und dieſs nicht
nur so, wie Lücke will, daſs Jesus für sich zwar bloſs
still gebetet haben würde, um des Volks willen aber sein
Gebet laut spreche (denn für das bloſs stille Beten liegt in
der Gewiſsheit der Erhörung kein Grund), sondern in dem
Sinne, daſs er für sich dem Vater nicht für einen einzelnen
Erfolg, wie gleichsam überrascht, zu danken brauche, da er
der Gewährung im Voraus gewiſs sei, also Wunsch und
Dank zusammenfallen, überhaupt sein Verhältniſs zum Vater
nicht in einzelnen Akten der Bitte, der Erhörung und des
Danks sich bewege, sondern ein beständiger und stetiger
Austausch dieser gegenseitigen Funktionen sei, aus wel-
chem an und für sich kein einzelner Dankakt in dieser
Weise sich aussondern würde. Wenn nun allerdings in
Bezug auf die Bedürfnisse des Volks und aus Sympathie
mit demselben in Jesu ein solcher einzelner Akt hervorge-
treten sein könnte: so müſste doch, wenn in dieser Stel-
lung Wahrheit gewesen sein soll, Jesus ganz im Mitgefühl
aufgegangen sein, den Standpunkt des Volks zu dem sei-
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/179>, abgerufen am 21.11.2024.
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