Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.Neuntes Kapitel. §. 96. aus eigenem Trieb und für sich selber gebetet haben. Hieraber hat er kaum zu beten angefangen, so steigt ihm schon die Reflexion auf, dass er nicht in eigenem Bedürfnisse bete, er betet also nicht aus lebendigem Gefühl, sondern aus kalter Accommodation, und diess muss man anstössig, ja widrig finden. In keinem Falle darf, wer auf diese Wei- se nur zur Erbauung Anderer betet, es diesen sagen, es geschehe nicht von seinem, sondern nur von ihrem Stand- punkt aus, weil ein lautes Gebet auf die Hörer nur dann Eindruck machen kann, wenn sie voraussetzen, dass der Spre- chende mit ganzer Seele dabei sei. Wie mochte also Je- sus sein angefangenes Gebet durch diesen Zusaz unwirk- sam machen? Drängte es ihn, vor Gott ein Bekennt- niss des wahren Bestands der Sache abzulegen, so konnte er diess im Stillen thun; dass er es laut aussprach, und in Folge dessen auch wir es hier lesen, diess könnte nur auf die spätere Christenheit, auf die Leser des Evange- liums, berechnet gewesen sein. Während nämlich zur Erweckung des Glaubens in der umstehenden Menge er- klärtermassen das Dankgebet nöthig war, konnte der fort- geschrittene Glaube, wie ihn das vierte Evangelium voraus- sezt, sich an demselben stossen, weil es aus einem zu un- tergeordneten, und namentlich zu wenig stetigen Verhält- niss des Sohns zum Vater hervorgegangen scheinen konn- te; es musste folglich jenes Gebet, das für die gegenwär- tigen Hörer nöthig war, für die späteren Leser wieder annullirt, oder auf den Werth einer blossen Accommodation restringirt werden. Diese Rücksicht aber kann unmöglich schon Jesus, sondern nur ein später lebender Christ ge- habt haben. Diess hat schon früher ein Kritiker gefühlt, und daher den 42. Vers als unächten Zusaz von späterer Hand aus dem Texte werfen wollen 38). Da jedoch dieses 38) Dieffenbach, über einige wahrscheinliche Interpolationen im Evangelium Johannis, in Bertholdt's krit. Journal, 5, S. 8 f. Das Leben Jesu II. Band. 11
Neuntes Kapitel. §. 96. aus eigenem Trieb und für sich selber gebetet haben. Hieraber hat er kaum zu beten angefangen, so steigt ihm schon die Reflexion auf, daſs er nicht in eigenem Bedürfnisse bete, er betet also nicht aus lebendigem Gefühl, sondern aus kalter Accommodation, und dieſs muſs man anstöſsig, ja widrig finden. In keinem Falle darf, wer auf diese Wei- se nur zur Erbauung Anderer betet, es diesen sagen, es geschehe nicht von seinem, sondern nur von ihrem Stand- punkt aus, weil ein lautes Gebet auf die Hörer nur dann Eindruck machen kann, wenn sie voraussetzen, daſs der Spre- chende mit ganzer Seele dabei sei. Wie mochte also Je- sus sein angefangenes Gebet durch diesen Zusaz unwirk- sam machen? Drängte es ihn, vor Gott ein Bekennt- niſs des wahren Bestands der Sache abzulegen, so konnte er dieſs im Stillen thun; daſs er es laut aussprach, und in Folge dessen auch wir es hier lesen, dieſs könnte nur auf die spätere Christenheit, auf die Leser des Evange- liums, berechnet gewesen sein. Während nämlich zur Erweckung des Glaubens in der umstehenden Menge er- klärtermaſsen das Dankgebet nöthig war, konnte der fort- geschrittene Glaube, wie ihn das vierte Evangelium voraus- sezt, sich an demselben stossen, weil es aus einem zu un- tergeordneten, und namentlich zu wenig stetigen Verhält- niſs des Sohns zum Vater hervorgegangen scheinen konn- te; es muſste folglich jenes Gebet, das für die gegenwär- tigen Hörer nöthig war, für die späteren Leser wieder annullirt, oder auf den Werth einer bloſsen Accommodation restringirt werden. Diese Rücksicht aber kann unmöglich schon Jesus, sondern nur ein später lebender Christ ge- habt haben. Dieſs hat schon früher ein Kritiker gefühlt, und daher den 42. Vers als unächten Zusaz von späterer Hand aus dem Texte werfen wollen 38). Da jedoch dieses 38) Dieffenbach, über einige wahrscheinliche Interpolationen im Evangelium Johannis, in Bertholdt's krit. Journal, 5, S. 8 f. Das Leben Jesu II. Band. 11
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Neuntes Kapitel. §. 96.
aus eigenem Trieb und für sich selber gebetet haben. Hier
aber hat er kaum zu beten angefangen, so steigt ihm schon
die Reflexion auf, daſs er nicht in eigenem Bedürfnisse
bete, er betet also nicht aus lebendigem Gefühl, sondern
aus kalter Accommodation, und dieſs muſs man anstöſsig, ja
widrig finden. In keinem Falle darf, wer auf diese Wei-
se nur zur Erbauung Anderer betet, es diesen sagen, es
geschehe nicht von seinem, sondern nur von ihrem Stand-
punkt aus, weil ein lautes Gebet auf die Hörer nur dann
Eindruck machen kann, wenn sie voraussetzen, daſs der Spre-
chende mit ganzer Seele dabei sei. Wie mochte also Je-
sus sein angefangenes Gebet durch diesen Zusaz unwirk-
sam machen? Drängte es ihn, vor Gott ein Bekennt-
niſs des wahren Bestands der Sache abzulegen, so konnte
er dieſs im Stillen thun; daſs er es laut aussprach, und
in Folge dessen auch wir es hier lesen, dieſs könnte nur
auf die spätere Christenheit, auf die Leser des Evange-
liums, berechnet gewesen sein. Während nämlich zur
Erweckung des Glaubens in der umstehenden Menge er-
klärtermaſsen das Dankgebet nöthig war, konnte der fort-
geschrittene Glaube, wie ihn das vierte Evangelium voraus-
sezt, sich an demselben stossen, weil es aus einem zu un-
tergeordneten, und namentlich zu wenig stetigen Verhält-
niſs des Sohns zum Vater hervorgegangen scheinen konn-
te; es muſste folglich jenes Gebet, das für die gegenwär-
tigen Hörer nöthig war, für die späteren Leser wieder
annullirt, oder auf den Werth einer bloſsen Accommodation
restringirt werden. Diese Rücksicht aber kann unmöglich
schon Jesus, sondern nur ein später lebender Christ ge-
habt haben. Dieſs hat schon früher ein Kritiker gefühlt,
und daher den 42. Vers als unächten Zusaz von späterer
Hand aus dem Texte werfen wollen 38). Da jedoch dieses
38) Dieffenbach, über einige wahrscheinliche Interpolationen im
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