nicht so weit gekommen, dass ihn das Wasser frei getra- gen hätte, sondern so weit hätte er es erst später gebracht? -- Fragen, die wir nur machen, um einen Blick in den Abgrund von Ungereimtheiten zu eröffnen, in welche man sich bei der supranaturalistischen Deutung dieser Erzäh- lung verwickelt.
Sie zu vermeiden, hat die natürliche Erklärung man- cherlei Wendungen genommen. Am kühnsten hat Paulus geradezu behauptet, es stehe gar nicht im Text, dass Je- sus auf dem Meere gegangen, das Wunder in dieser Stelle sei lediglich ein philologisches, indem das peripatein epi tes thalasses nur, wie 2 Mos. 14, 2. das sratopedeuein epi tes thalasses ein Lagern, so ein Wandeln über dem Meer, d. h. am erhabenen Ufer desselben, bedeute 9). Der Be- deutung der einzelnen Worte nach ist diese Erklärung mög- lich: ihre wirkliche Anwendbarkeit aber muss sich erst aus dem Zusammenhang ergeben. Dieser nun lässt die Jün- ger 25--30 Stadien weit gefahren sein (Joh.) oder mitten im See sich befinden (Matth. u. Mark.), und nun heisst es, Jesus sei auf sie zu-, und zwar so nahe, dass er mit ih- nen sprechen konnte, an das Schiff herangekommen, peri- paton epi tes thalasses -- wie konnte er diess, wenn er am Ufer blieb? Dieser Instanz auszuweichen, vermuthet Paulus, die Jünger seien in der stürmischen Nacht wohl nur am Ufer hingefahren: was dem en meso tes thalas- ses, wenn es auch allerdings nicht mathematisch genau, sondern nach populärer Redeweise zu nehmen ist, zu ent- schieden widerspricht, um in weitere Rücksicht kommen zu können. Tödtlich aber verlezt sich diese Auffassungs- weise an der Stelle, wo Matthäus auch von Petrus sagt, dass er katabas apo tou ploiouperiepatesen epi ta udata (V. 29.), was, da unmittelbar darauf von katapontizesthai
nicht so weit gekommen, daſs ihn das Wasser frei getra- gen hätte, sondern so weit hätte er es erst später gebracht? — Fragen, die wir nur machen, um einen Blick in den Abgrund von Ungereimtheiten zu eröffnen, in welche man sich bei der supranaturalistischen Deutung dieser Erzäh- lung verwickelt.
Sie zu vermeiden, hat die natürliche Erklärung man- cherlei Wendungen genommen. Am kühnsten hat Paulus geradezu behauptet, es stehe gar nicht im Text, daſs Je- sus auf dem Meere gegangen, das Wunder in dieser Stelle sei lediglich ein philologisches, indem das περιπατεῖν ἐπὶ τῆς ϑαλάσσης nur, wie 2 Mos. 14, 2. das ςρατοπεδεύειν ἐπὶ τῆς ϑαλάσσης ein Lagern, so ein Wandeln über dem Meer, d. h. am erhabenen Ufer desselben, bedeute 9). Der Be- deutung der einzelnen Worte nach ist diese Erklärung mög- lich: ihre wirkliche Anwendbarkeit aber muſs sich erst aus dem Zusammenhang ergeben. Dieser nun läſst die Jün- ger 25—30 Stadien weit gefahren sein (Joh.) oder mitten im See sich befinden (Matth. u. Mark.), und nun heiſst es, Jesus sei auf sie zu-, und zwar so nahe, daſs er mit ih- nen sprechen konnte, an das Schiff herangekommen, περι- πατῶν ἐπὶ τῆς ϑαλάσσης — wie konnte er dieſs, wenn er am Ufer blieb? Dieser Instanz auszuweichen, vermuthet Paulus, die Jünger seien in der stürmischen Nacht wohl nur am Ufer hingefahren: was dem ἐν μέσῳ τῆς ϑαλάσ- σης, wenn es auch allerdings nicht mathematisch genau, sondern nach populärer Redeweise zu nehmen ist, zu ent- schieden widerspricht, um in weitere Rücksicht kommen zu können. Tödtlich aber verlezt sich diese Auffassungs- weise an der Stelle, wo Matthäus auch von Petrus sagt, daſs er καταβὰς ἀπὸ τοῦ πλοίουπεριεπάτησεν ἐπὶ τὰ ὕδατα (V. 29.), was, da unmittelbar darauf von καταποντίζεσϑαι
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[182/0201]
Zweiter Abschnitt.
nicht so weit gekommen, daſs ihn das Wasser frei getra-
gen hätte, sondern so weit hätte er es erst später gebracht?
— Fragen, die wir nur machen, um einen Blick in den
Abgrund von Ungereimtheiten zu eröffnen, in welche man
sich bei der supranaturalistischen Deutung dieser Erzäh-
lung verwickelt.
Sie zu vermeiden, hat die natürliche Erklärung man-
cherlei Wendungen genommen. Am kühnsten hat Paulus
geradezu behauptet, es stehe gar nicht im Text, daſs Je-
sus auf dem Meere gegangen, das Wunder in dieser Stelle
sei lediglich ein philologisches, indem das περιπατεῖν ἐπὶ
τῆς ϑαλάσσης nur, wie 2 Mos. 14, 2. das ςρατοπεδεύειν ἐπὶ
τῆς ϑαλάσσης ein Lagern, so ein Wandeln über dem Meer,
d. h. am erhabenen Ufer desselben, bedeute 9). Der Be-
deutung der einzelnen Worte nach ist diese Erklärung mög-
lich: ihre wirkliche Anwendbarkeit aber muſs sich erst
aus dem Zusammenhang ergeben. Dieser nun läſst die Jün-
ger 25—30 Stadien weit gefahren sein (Joh.) oder mitten
im See sich befinden (Matth. u. Mark.), und nun heiſst es,
Jesus sei auf sie zu-, und zwar so nahe, daſs er mit ih-
nen sprechen konnte, an das Schiff herangekommen, περι-
πατῶν ἐπὶ τῆς ϑαλάσσης — wie konnte er dieſs, wenn er
am Ufer blieb? Dieser Instanz auszuweichen, vermuthet
Paulus, die Jünger seien in der stürmischen Nacht wohl
nur am Ufer hingefahren: was dem ἐν μέσῳ τῆς ϑαλάσ-
σης, wenn es auch allerdings nicht mathematisch genau,
sondern nach populärer Redeweise zu nehmen ist, zu ent-
schieden widerspricht, um in weitere Rücksicht kommen
zu können. Tödtlich aber verlezt sich diese Auffassungs-
weise an der Stelle, wo Matthäus auch von Petrus sagt,
daſs er καταβὰς ἀπὸ τοῦ πλοίουπεριεπάτησεν ἐπὶ τὰ ὕδατα
(V. 29.), was, da unmittelbar darauf von καταποντίζεσϑαι
9) Paulus, Memorabilien, 6. Stück, No. V.; ex. Handb. 2, S.
238 ff.
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 182. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/201>, abgerufen am 21.11.2024.
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