Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.Neuntes Kapitel. §. 98. den habe, so könne sie nicht ohne alle Speisevorräthe ge-wesen, und nur einigen Ärmeren vielleicht der Vorrath bereits ausgegangen gewesen sein. Um nun die besser Ver- sehenen zur Mittheilung an die, denen es fehlte, zu ver- anlassen, habe Jesus ein Mahl veranstaltet, und sei mit eigenem Beispiele in der Mittheilung dessen, was er und seine Jünger von ihrem geringen Vorrath entbehren konn- ten, vorangegangen; dieser Vorgang habe Nachahmung gefunden, und so sei, indem Jesu Brotaustheilung eine allgemeine Mittheilung veranlasste, der ganze Volkshaufe satt geworden. Allerdings müsse man dieses natürliche Mittelglied in den Text erst hineindenken; da jedoch das übernatürliche, welches man gewöhnlich annehme, die wun- derbare Brotvermehrung, ebenso wenig ausdrücklich ange- geben sei, sondern beide gleicherweise hinzugedacht wer- den müssen: so könne man nicht anders, als für das na- türliche sich entscheiden. -- Doch das hier behauptete glei- che Verhältniss der beiden Mittelglieder zum Text findet in der That nicht statt. Sondern, während zum Behuf der natürlichen Erklärung ein neues austheilendes Subjekt (die besser Versehenen unter der Menge), und ein neues ausgetheiltes Objekt (deren Vorräthe), sammt der Handlung des Austheilens von diesen hinzugedacht werden muss: be- gnügt sich die supranaturalistische Erklärung mit dem vor- handenen Subjekt (Jesu und seinen Jüngern), Objekt (de- ren kleinem Vorrath) und dessen Austheilung, und lässt nur die Art hinzudenken, wie dieser Vorrath zur Sätti- gung der Menge zulänglich gemacht wurde, indem er sich nämlich unter Jesu (oder seiner Jünger) Händen wunder- bar vermehrte. Wie kann man hier noch behaupten, dem Text liege keines von beiden Mittelgliedern näher als das andere? Dass die wunderbare Vermehrung der Brote und Fische verschwiegen ist, erklärt sich daraus, dass dieser Vorgang selbst sich nicht für die Anschauung festhalten lassen will, daher besser nur nach dem Erfolg bezeichnet Das Leben Jesu II. Band. 14
Neuntes Kapitel. §. 98. den habe, so könne sie nicht ohne alle Speisevorräthe ge-wesen, und nur einigen Ärmeren vielleicht der Vorrath bereits ausgegangen gewesen sein. Um nun die besser Ver- sehenen zur Mittheilung an die, denen es fehlte, zu ver- anlassen, habe Jesus ein Mahl veranstaltet, und sei mit eigenem Beispiele in der Mittheilung dessen, was er und seine Jünger von ihrem geringen Vorrath entbehren konn- ten, vorangegangen; dieser Vorgang habe Nachahmung gefunden, und so sei, indem Jesu Brotaustheilung eine allgemeine Mittheilung veranlaſste, der ganze Volkshaufe satt geworden. Allerdings müsse man dieses natürliche Mittelglied in den Text erst hineindenken; da jedoch das übernatürliche, welches man gewöhnlich annehme, die wun- derbare Brotvermehrung, ebenso wenig ausdrücklich ange- geben sei, sondern beide gleicherweise hinzugedacht wer- den müssen: so könne man nicht anders, als für das na- türliche sich entscheiden. — Doch das hier behauptete glei- che Verhältniſs der beiden Mittelglieder zum Text findet in der That nicht statt. Sondern, während zum Behuf der natürlichen Erklärung ein neues austheilendes Subjekt (die besser Versehenen unter der Menge), und ein neues ausgetheiltes Objekt (deren Vorräthe), sammt der Handlung des Austheilens von diesen hinzugedacht werden muſs: be- gnügt sich die supranaturalistische Erklärung mit dem vor- handenen Subjekt (Jesu und seinen Jüngern), Objekt (de- ren kleinem Vorrath) und dessen Austheilung, und läſst nur die Art hinzudenken, wie dieser Vorrath zur Sätti- gung der Menge zulänglich gemacht wurde, indem er sich nämlich unter Jesu (oder seiner Jünger) Händen wunder- bar vermehrte. Wie kann man hier noch behaupten, dem Text liege keines von beiden Mittelgliedern näher als das andere? Daſs die wunderbare Vermehrung der Brote und Fische verschwiegen ist, erklärt sich daraus, daſs dieser Vorgang selbst sich nicht für die Anschauung festhalten lassen will, daher besser nur nach dem Erfolg bezeichnet Das Leben Jesu II. Band. 14
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Neuntes Kapitel. §. 98.
den habe, so könne sie nicht ohne alle Speisevorräthe ge-
wesen, und nur einigen Ärmeren vielleicht der Vorrath
bereits ausgegangen gewesen sein. Um nun die besser Ver-
sehenen zur Mittheilung an die, denen es fehlte, zu ver-
anlassen, habe Jesus ein Mahl veranstaltet, und sei mit
eigenem Beispiele in der Mittheilung dessen, was er und
seine Jünger von ihrem geringen Vorrath entbehren konn-
ten, vorangegangen; dieser Vorgang habe Nachahmung
gefunden, und so sei, indem Jesu Brotaustheilung eine
allgemeine Mittheilung veranlaſste, der ganze Volkshaufe
satt geworden. Allerdings müsse man dieses natürliche
Mittelglied in den Text erst hineindenken; da jedoch das
übernatürliche, welches man gewöhnlich annehme, die wun-
derbare Brotvermehrung, ebenso wenig ausdrücklich ange-
geben sei, sondern beide gleicherweise hinzugedacht wer-
den müssen: so könne man nicht anders, als für das na-
türliche sich entscheiden. — Doch das hier behauptete glei-
che Verhältniſs der beiden Mittelglieder zum Text findet
in der That nicht statt. Sondern, während zum Behuf
der natürlichen Erklärung ein neues austheilendes Subjekt
(die besser Versehenen unter der Menge), und ein neues
ausgetheiltes Objekt (deren Vorräthe), sammt der Handlung
des Austheilens von diesen hinzugedacht werden muſs: be-
gnügt sich die supranaturalistische Erklärung mit dem vor-
handenen Subjekt (Jesu und seinen Jüngern), Objekt (de-
ren kleinem Vorrath) und dessen Austheilung, und läſst
nur die Art hinzudenken, wie dieser Vorrath zur Sätti-
gung der Menge zulänglich gemacht wurde, indem er sich
nämlich unter Jesu (oder seiner Jünger) Händen wunder-
bar vermehrte. Wie kann man hier noch behaupten, dem
Text liege keines von beiden Mittelgliedern näher als das
andere? Daſs die wunderbare Vermehrung der Brote und
Fische verschwiegen ist, erklärt sich daraus, daſs dieser
Vorgang selbst sich nicht für die Anschauung festhalten
lassen will, daher besser nur nach dem Erfolg bezeichnet
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