Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweiter Abschnitt.
hinzugedachter Bitte um Abhülfe zu seiner Kenntniss brach-
te. Ein Anderes wäre es gewesen, wenn Jesus den Fall
nicht geeignet, oder gar unwürdig gefunden hätte, ein Wun-
der an denselben zu knüpfen: dann hätte er die auffor-
dernde Anzeige als Reizung zu falscher Wunderthätigkeit
(wie in der Versuchungsgeschichte) hart abweisen mögen;
so hingegen, da er bald darauf durch die That zeigte, dass
er den Anlass allerdings eines Wunders werth finde, ist
schlechterdings nicht einzusehen, wie er der Mutter ihre
Anzeige, die ihm nur vielleicht einige Augenblicke zu frü-
he kam, verdenken konnte 21).

Den zahlreichen Schwierigkeiten der supranaturalisti-
schen Auffassung hat man auch hier durch natürliche Deu-
tung der Geschichte zu entfliehen versucht. Von der Sitte
ausgehend, dass bei jüdischen Hochzeiten Geschenke an
Wein oder Öl gewöhnlich waren, und davon, dass Jesus,
der 5 neugeworbene Schüler als ungeladene Gäste mitbrach-
te, einen Mangel an Wein voraussehen konnte, nimmt man
an, des Scherzes wegen habe Jesus sein Geschenk auf un-
erwartete und geheimnissvolle Weise anbringen wollen. Die
doxa, welche er durch diese Handlung offenbarte, ist hie-
nach nur seine Humanität, welche gehörigen Ortes auch
einen Spass zu machen nicht verschmähte; die pisis, die
er sich dadurch bei seinen Jüngern zuwege brachte, ist
das freudige Anschliessen an einen Mann, welcher nichts
von dem drückenden Ernste zeigte, den man sich vom
Messias prognosticirte. Die Mutter wusste um den Vor-
saz des Sohnes und mahnt ihn, wie es ihr Zeit schien,
denselben zur Ausführung zu bringen; er aber erinnert
sie scherzend, ihm nicht durch Vorschnelligkeit den Spass
zu verderben. Dass er Wasser einschöpfen liess, scheint
zu der scherzhaften Täuschung gehört zu haben, welche
er beabsichtigte; dass, als auf Einmal Wein statt Was-

21) Vgl. auch die Probabilien, p. 41 f.

Zweiter Abschnitt.
hinzugedachter Bitte um Abhülfe zu seiner Kenntniſs brach-
te. Ein Anderes wäre es gewesen, wenn Jesus den Fall
nicht geeignet, oder gar unwürdig gefunden hätte, ein Wun-
der an denselben zu knüpfen: dann hätte er die auffor-
dernde Anzeige als Reizung zu falscher Wunderthätigkeit
(wie in der Versuchungsgeschichte) hart abweisen mögen;
so hingegen, da er bald darauf durch die That zeigte, daſs
er den Anlaſs allerdings eines Wunders werth finde, ist
schlechterdings nicht einzusehen, wie er der Mutter ihre
Anzeige, die ihm nur vielleicht einige Augenblicke zu frü-
he kam, verdenken konnte 21).

Den zahlreichen Schwierigkeiten der supranaturalisti-
schen Auffassung hat man auch hier durch natürliche Deu-
tung der Geschichte zu entfliehen versucht. Von der Sitte
ausgehend, daſs bei jüdischen Hochzeiten Geschenke an
Wein oder Öl gewöhnlich waren, und davon, daſs Jesus,
der 5 neugeworbene Schüler als ungeladene Gäste mitbrach-
te, einen Mangel an Wein voraussehen konnte, nimmt man
an, des Scherzes wegen habe Jesus sein Geschenk auf un-
erwartete und geheimniſsvolle Weise anbringen wollen. Die
δόξα, welche er durch diese Handlung offenbarte, ist hie-
nach nur seine Humanität, welche gehörigen Ortes auch
einen Spaſs zu machen nicht verschmähte; die πίςις, die
er sich dadurch bei seinen Jüngern zuwege brachte, ist
das freudige Anschlieſsen an einen Mann, welcher nichts
von dem drückenden Ernste zeigte, den man sich vom
Messias prognosticirte. Die Mutter wuſste um den Vor-
saz des Sohnes und mahnt ihn, wie es ihr Zeit schien,
denselben zur Ausführung zu bringen; er aber erinnert
sie scherzend, ihm nicht durch Vorschnelligkeit den Spaſs
zu verderben. Daſs er Wasser einschöpfen lieſs, scheint
zu der scherzhaften Täuschung gehört zu haben, welche
er beabsichtigte; daſs, als auf Einmal Wein statt Was-

21) Vgl. auch die Probabilien, p. 41 f.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0249" n="230"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Zweiter Abschnitt</hi>.</fw><lb/>
hinzugedachter Bitte um Abhülfe zu seiner Kenntni&#x017F;s brach-<lb/>
te. Ein Anderes wäre es gewesen, wenn Jesus den Fall<lb/>
nicht geeignet, oder gar unwürdig gefunden hätte, ein Wun-<lb/>
der an denselben zu knüpfen: dann hätte er die auffor-<lb/>
dernde Anzeige als Reizung zu falscher Wunderthätigkeit<lb/>
(wie in der Versuchungsgeschichte) hart abweisen mögen;<lb/>
so hingegen, da er bald darauf durch die That zeigte, da&#x017F;s<lb/>
er den Anla&#x017F;s allerdings eines Wunders werth finde, ist<lb/>
schlechterdings nicht einzusehen, wie er der Mutter ihre<lb/>
Anzeige, die ihm nur vielleicht einige Augenblicke zu frü-<lb/>
he kam, verdenken konnte <note place="foot" n="21)">Vgl. auch die Probabilien, p. 41 f.</note>.</p><lb/>
          <p>Den zahlreichen Schwierigkeiten der supranaturalisti-<lb/>
schen Auffassung hat man auch hier durch natürliche Deu-<lb/>
tung der Geschichte zu entfliehen versucht. Von der Sitte<lb/>
ausgehend, da&#x017F;s bei jüdischen Hochzeiten Geschenke an<lb/>
Wein oder Öl gewöhnlich waren, und davon, da&#x017F;s Jesus,<lb/>
der 5 neugeworbene Schüler als ungeladene Gäste mitbrach-<lb/>
te, einen Mangel an Wein voraussehen konnte, nimmt man<lb/>
an, des Scherzes wegen habe Jesus sein Geschenk auf un-<lb/>
erwartete und geheimni&#x017F;svolle Weise anbringen wollen. Die<lb/><foreign xml:lang="ell">&#x03B4;&#x03CC;&#x03BE;&#x03B1;</foreign>, welche er durch diese Handlung offenbarte, ist hie-<lb/>
nach nur seine Humanität, welche gehörigen Ortes auch<lb/>
einen Spa&#x017F;s zu machen nicht verschmähte; die &#x03C0;&#x03AF;&#x03C2;&#x03B9;&#x03C2;, die<lb/>
er sich dadurch bei seinen Jüngern zuwege brachte, ist<lb/>
das freudige Anschlie&#x017F;sen an einen Mann, welcher nichts<lb/>
von dem drückenden Ernste zeigte, den man sich vom<lb/>
Messias prognosticirte. Die Mutter wu&#x017F;ste um den Vor-<lb/>
saz des Sohnes und mahnt ihn, wie es ihr Zeit schien,<lb/>
denselben zur Ausführung zu bringen; er aber erinnert<lb/>
sie scherzend, ihm nicht durch Vorschnelligkeit den Spa&#x017F;s<lb/>
zu verderben. Da&#x017F;s er Wasser einschöpfen lie&#x017F;s, scheint<lb/>
zu der scherzhaften Täuschung gehört zu haben, welche<lb/>
er beabsichtigte; da&#x017F;s, als auf Einmal Wein statt Was-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[230/0249] Zweiter Abschnitt. hinzugedachter Bitte um Abhülfe zu seiner Kenntniſs brach- te. Ein Anderes wäre es gewesen, wenn Jesus den Fall nicht geeignet, oder gar unwürdig gefunden hätte, ein Wun- der an denselben zu knüpfen: dann hätte er die auffor- dernde Anzeige als Reizung zu falscher Wunderthätigkeit (wie in der Versuchungsgeschichte) hart abweisen mögen; so hingegen, da er bald darauf durch die That zeigte, daſs er den Anlaſs allerdings eines Wunders werth finde, ist schlechterdings nicht einzusehen, wie er der Mutter ihre Anzeige, die ihm nur vielleicht einige Augenblicke zu frü- he kam, verdenken konnte 21). Den zahlreichen Schwierigkeiten der supranaturalisti- schen Auffassung hat man auch hier durch natürliche Deu- tung der Geschichte zu entfliehen versucht. Von der Sitte ausgehend, daſs bei jüdischen Hochzeiten Geschenke an Wein oder Öl gewöhnlich waren, und davon, daſs Jesus, der 5 neugeworbene Schüler als ungeladene Gäste mitbrach- te, einen Mangel an Wein voraussehen konnte, nimmt man an, des Scherzes wegen habe Jesus sein Geschenk auf un- erwartete und geheimniſsvolle Weise anbringen wollen. Die δόξα, welche er durch diese Handlung offenbarte, ist hie- nach nur seine Humanität, welche gehörigen Ortes auch einen Spaſs zu machen nicht verschmähte; die πίςις, die er sich dadurch bei seinen Jüngern zuwege brachte, ist das freudige Anschlieſsen an einen Mann, welcher nichts von dem drückenden Ernste zeigte, den man sich vom Messias prognosticirte. Die Mutter wuſste um den Vor- saz des Sohnes und mahnt ihn, wie es ihr Zeit schien, denselben zur Ausführung zu bringen; er aber erinnert sie scherzend, ihm nicht durch Vorschnelligkeit den Spaſs zu verderben. Daſs er Wasser einschöpfen lieſs, scheint zu der scherzhaften Täuschung gehört zu haben, welche er beabsichtigte; daſs, als auf Einmal Wein statt Was- 21) Vgl. auch die Probabilien, p. 41 f.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/249
Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 230. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/249>, abgerufen am 24.11.2024.