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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Neuntes Kapitel. §. 99.
durch die Annahme, das Wasser habe Jesus holen lassen,
weil es auch daran fehlte, und er den wohlthätigen Ge-
brauch des Waschens vor und nach der Tafel empfehlen
wollte, den Wein aber habe er hernach aus einer anstos-
senden Kammer, wohin er ihn gestellt hatte, herbeibrin-
gen lassen -- eine Auffassung, bei welcher freilich entwe-
der die Trunkenheit sämmtlicher Gäste und namentlich des
Referenten als ziemlich bedeutend angenommen werden
müsste, wenn sie den aus der Kammer gebrachten Wein
für einen aus den Wasserkrügen geschöpften angesehen
haben sollen, oder die täuschende Veranstaltung Jesu als
sehr fein angelegt, was mit seiner sonstigen Geradheit sich
nicht verträgt.

In dieser Klemme zwischen der supranaturalen und der
natürlichen Erklärung, von welchen auch hier die eine so
wenig als die andre genügen kann, müssten wir nun mit
dem neuesten Ausleger des vierten Evangeliums warten,
"bis es Gott gefällt, durch weitere Entwicklungen des be-
sonnenen christlichen Denkens die Lösung dieser Räthsel
zu allgemeiner Befriedigung herbeizuführen 25)", wenn
uns nicht ein Ausweg schon dadurch angezeigt wäre, dass
wir die betreffende Geschichte nur bei dem Einen Jo-
hannes finden. War sie, einzig in ihrer Art wie sie ist,
zugleich das erste Zeichen Jesu, so musste sie, wenn auch
damals noch nicht alle Zwölfe mit Jesu waren, doch die-
sen allen bekannt werden, und wenn auch unter den übri-
gen Evangelisten kein Apostel ist, doch in die allgemeine
Tradition und von da in die synoptischen Aufzeichnungen
übergehen: so, da sie nur Johannes hat, scheint die An-
nahme, dass sie in einem den Synoptikern unbekannten Sa-
gengebiet erst entstanden, leichter als die andere, dass sie
aus dem ihrigen so frühzeitig verschwunden sei; es kommt
nur darauf an, ob wir im Stande sind, nachzuweisen, wie

25) Lücke, S. 407.

Neuntes Kapitel. §. 99.
durch die Annahme, das Wasser habe Jesus holen lassen,
weil es auch daran fehlte, und er den wohlthätigen Ge-
brauch des Waschens vor und nach der Tafel empfehlen
wollte, den Wein aber habe er hernach aus einer anstos-
senden Kammer, wohin er ihn gestellt hatte, herbeibrin-
gen lassen — eine Auffassung, bei welcher freilich entwe-
der die Trunkenheit sämmtlicher Gäste und namentlich des
Referenten als ziemlich bedeutend angenommen werden
müſste, wenn sie den aus der Kammer gebrachten Wein
für einen aus den Wasserkrügen geschöpften angesehen
haben sollen, oder die täuschende Veranstaltung Jesu als
sehr fein angelegt, was mit seiner sonstigen Geradheit sich
nicht verträgt.

In dieser Klemme zwischen der supranaturalen und der
natürlichen Erklärung, von welchen auch hier die eine so
wenig als die andre genügen kann, müſsten wir nun mit
dem neuesten Ausleger des vierten Evangeliums warten,
„bis es Gott gefällt, durch weitere Entwicklungen des be-
sonnenen christlichen Denkens die Lösung dieser Räthsel
zu allgemeiner Befriedigung herbeizuführen 25)“, wenn
uns nicht ein Ausweg schon dadurch angezeigt wäre, daſs
wir die betreffende Geschichte nur bei dem Einen Jo-
hannes finden. War sie, einzig in ihrer Art wie sie ist,
zugleich das erste Zeichen Jesu, so muſste sie, wenn auch
damals noch nicht alle Zwölfe mit Jesu waren, doch die-
sen allen bekannt werden, und wenn auch unter den übri-
gen Evangelisten kein Apostel ist, doch in die allgemeine
Tradition und von da in die synoptischen Aufzeichnungen
übergehen: so, da sie nur Johannes hat, scheint die An-
nahme, daſs sie in einem den Synoptikern unbekannten Sa-
gengebiet erst entstanden, leichter als die andere, daſs sie
aus dem ihrigen so frühzeitig verschwunden sei; es kommt
nur darauf an, ob wir im Stande sind, nachzuweisen, wie

25) Lücke, S. 407.
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[233/0252] Neuntes Kapitel. §. 99. durch die Annahme, das Wasser habe Jesus holen lassen, weil es auch daran fehlte, und er den wohlthätigen Ge- brauch des Waschens vor und nach der Tafel empfehlen wollte, den Wein aber habe er hernach aus einer anstos- senden Kammer, wohin er ihn gestellt hatte, herbeibrin- gen lassen — eine Auffassung, bei welcher freilich entwe- der die Trunkenheit sämmtlicher Gäste und namentlich des Referenten als ziemlich bedeutend angenommen werden müſste, wenn sie den aus der Kammer gebrachten Wein für einen aus den Wasserkrügen geschöpften angesehen haben sollen, oder die täuschende Veranstaltung Jesu als sehr fein angelegt, was mit seiner sonstigen Geradheit sich nicht verträgt. In dieser Klemme zwischen der supranaturalen und der natürlichen Erklärung, von welchen auch hier die eine so wenig als die andre genügen kann, müſsten wir nun mit dem neuesten Ausleger des vierten Evangeliums warten, „bis es Gott gefällt, durch weitere Entwicklungen des be- sonnenen christlichen Denkens die Lösung dieser Räthsel zu allgemeiner Befriedigung herbeizuführen 25)“, wenn uns nicht ein Ausweg schon dadurch angezeigt wäre, daſs wir die betreffende Geschichte nur bei dem Einen Jo- hannes finden. War sie, einzig in ihrer Art wie sie ist, zugleich das erste Zeichen Jesu, so muſste sie, wenn auch damals noch nicht alle Zwölfe mit Jesu waren, doch die- sen allen bekannt werden, und wenn auch unter den übri- gen Evangelisten kein Apostel ist, doch in die allgemeine Tradition und von da in die synoptischen Aufzeichnungen übergehen: so, da sie nur Johannes hat, scheint die An- nahme, daſs sie in einem den Synoptikern unbekannten Sa- gengebiet erst entstanden, leichter als die andere, daſs sie aus dem ihrigen so frühzeitig verschwunden sei; es kommt nur darauf an, ob wir im Stande sind, nachzuweisen, wie 25) Lücke, S. 407.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 233. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/252>, abgerufen am 22.11.2024.