Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweiter Abschnitt.
einer, auch in einem unfruchtbaren Jahrgang, zu der Zeit,
in welcher sonst die Früchte zu reifen pflegen, solche sucht,
doch nicht gesagt werden, dass es zur Unzeit sei, viel-
mehr könnte ein Missjahr gerade dadurch bezeichnet wer-
den, dass, ote elthen o kairos ton karpon, man nirgends
welche gefunden habe. Jedenfalls, wenn der ganze Jahr-
gang die Feigen, eine in Palästina so häufige Frucht, nicht
begünstigte, musste Jesus diess fast ebensogut wissen, als
wenn die unrechte Jahrszeit war: so dass das Räthsel
bleibt, wie Jesus über eine Beschaffenheit des Baums, wel-
che in Folge ihm bekannter Umstände nicht anders sein
konnte, so ungehalten sein mochte.

Allein erinnern wir uns doch nur, wer es ist, dem
wir jenen Zusaz verdanken. Es ist Markus, welcher in
seinem erläuternden, veranschaulichenden Bestreben so Man-
ches aus seinem Eignen zusezt, und dabei, wie längst an-
erkannt ist, und auch wir auf unsrem Wege schon zur
Genüge gefunden haben, nicht immer auf die überlegteste
Weise zu Werke geht. So hier nimmt er gleich das erste
Auffallende, was ihm begegnet, dass der Baum keine
Früchte hatte, und ist eilig mit der Erklärung bei der
Hand, es werde die Zeit nicht gewesen sein; merkt aber
nicht, dass er, indem er physikalisch die Leerheit des Baums
erklärt, dadurch das Verfahren Jesu moralisch unerklär-
lich macht. Auch die oben erwähnte Abweichung von Mat-
thäus in Betreff der Zeit, innerhalb welcher der Baum
verdorrte, ist, weit entfernt, eine grössere Urkundlichkeit
des Markus in dieser Erzählung 12), oder eine Neigung
zu natürlicher Erklärung des Wunderbaren zu beweisen,
wieder nur aus demselben veranschaulichenden Bestreben,
wie der zulezt betrachtete Zusaz, hervorgegangen. Das

12) Wie Sieffert meint, über den Ursprung u. s. f. S. 113 ff.
Vergl. dagegen meine Recens, in den Jahrh. f. wiss. Kritik,
Nov. 1834.

Zweiter Abschnitt.
einer, auch in einem unfruchtbaren Jahrgang, zu der Zeit,
in welcher sonst die Früchte zu reifen pflegen, solche sucht,
doch nicht gesagt werden, daſs es zur Unzeit sei, viel-
mehr könnte ein Miſsjahr gerade dadurch bezeichnet wer-
den, daſs, ὅτε ἦλϑεν ὁ καιρὸς τῶν καρπῶν, man nirgends
welche gefunden habe. Jedenfalls, wenn der ganze Jahr-
gang die Feigen, eine in Palästina so häufige Frucht, nicht
begünstigte, muſste Jesus dieſs fast ebensogut wissen, als
wenn die unrechte Jahrszeit war: so daſs das Räthsel
bleibt, wie Jesus über eine Beschaffenheit des Baums, wel-
che in Folge ihm bekannter Umstände nicht anders sein
konnte, so ungehalten sein mochte.

Allein erinnern wir uns doch nur, wer es ist, dem
wir jenen Zusaz verdanken. Es ist Markus, welcher in
seinem erläuternden, veranschaulichenden Bestreben so Man-
ches aus seinem Eignen zusezt, und dabei, wie längst an-
erkannt ist, und auch wir auf unsrem Wege schon zur
Genüge gefunden haben, nicht immer auf die überlegteste
Weise zu Werke geht. So hier nimmt er gleich das erste
Auffallende, was ihm begegnet, daſs der Baum keine
Früchte hatte, und ist eilig mit der Erklärung bei der
Hand, es werde die Zeit nicht gewesen sein; merkt aber
nicht, daſs er, indem er physikalisch die Leerheit des Baums
erklärt, dadurch das Verfahren Jesu moralisch unerklär-
lich macht. Auch die oben erwähnte Abweichung von Mat-
thäus in Betreff der Zeit, innerhalb welcher der Baum
verdorrte, ist, weit entfernt, eine gröſsere Urkundlichkeit
des Markus in dieser Erzählung 12), oder eine Neigung
zu natürlicher Erklärung des Wunderbaren zu beweisen,
wieder nur aus demselben veranschaulichenden Bestreben,
wie der zulezt betrachtete Zusaz, hervorgegangen. Das

12) Wie Sieffert meint, über den Ursprung u. s. f. S. 113 ff.
Vergl. dagegen meine Recens, in den Jahrh. f. wiss. Kritik,
Nov. 1834.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0263" n="244"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Zweiter Abschnitt</hi>.</fw><lb/>
einer, auch in einem unfruchtbaren Jahrgang, zu der Zeit,<lb/>
in welcher sonst die Früchte zu reifen pflegen, solche sucht,<lb/>
doch nicht gesagt werden, da&#x017F;s es zur Unzeit sei, viel-<lb/>
mehr könnte ein Mi&#x017F;sjahr gerade dadurch bezeichnet wer-<lb/>
den, da&#x017F;s, <foreign xml:lang="ell">&#x1F45;&#x03C4;&#x03B5; &#x1F26;&#x03BB;&#x03D1;&#x03B5;&#x03BD; &#x1F41; &#x03BA;&#x03B1;&#x03B9;&#x03C1;&#x1F78;&#x03C2; &#x03C4;&#x1FF6;&#x03BD; &#x03BA;&#x03B1;&#x03C1;&#x03C0;&#x1FF6;&#x03BD;</foreign>, man nirgends<lb/>
welche gefunden habe. Jedenfalls, wenn der ganze Jahr-<lb/>
gang die Feigen, eine in Palästina so häufige Frucht, nicht<lb/>
begünstigte, mu&#x017F;ste Jesus die&#x017F;s fast ebensogut wissen, als<lb/>
wenn die unrechte Jahrszeit war: so da&#x017F;s das Räthsel<lb/>
bleibt, wie Jesus über eine Beschaffenheit des Baums, wel-<lb/>
che in Folge ihm bekannter Umstände nicht anders sein<lb/>
konnte, so ungehalten sein mochte.</p><lb/>
          <p>Allein erinnern wir uns doch nur, wer es ist, dem<lb/>
wir jenen Zusaz verdanken. Es ist Markus, welcher in<lb/>
seinem erläuternden, veranschaulichenden Bestreben so Man-<lb/>
ches aus seinem Eignen zusezt, und dabei, wie längst an-<lb/>
erkannt ist, und auch wir auf unsrem Wege schon zur<lb/>
Genüge gefunden haben, nicht immer auf die überlegteste<lb/>
Weise zu Werke geht. So hier nimmt er gleich das erste<lb/>
Auffallende, was ihm begegnet, da&#x017F;s der Baum keine<lb/>
Früchte hatte, und ist eilig mit der Erklärung bei der<lb/>
Hand, es werde die Zeit nicht gewesen sein; merkt aber<lb/>
nicht, da&#x017F;s er, indem er physikalisch die Leerheit des Baums<lb/>
erklärt, dadurch das Verfahren Jesu moralisch unerklär-<lb/>
lich macht. Auch die oben erwähnte Abweichung von Mat-<lb/>
thäus in Betreff der Zeit, innerhalb welcher der Baum<lb/>
verdorrte, ist, weit entfernt, eine grö&#x017F;sere Urkundlichkeit<lb/>
des Markus in dieser Erzählung <note place="foot" n="12)">Wie <hi rendition="#k">Sieffert</hi> meint, über den Ursprung u. s. f. S. 113 ff.<lb/>
Vergl. dagegen meine Recens, in den Jahrh. f. wiss. Kritik,<lb/>
Nov. 1834.</note>, oder eine Neigung<lb/>
zu natürlicher Erklärung des Wunderbaren zu beweisen,<lb/>
wieder nur aus demselben veranschaulichenden Bestreben,<lb/>
wie der zulezt betrachtete Zusaz, hervorgegangen. Das<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[244/0263] Zweiter Abschnitt. einer, auch in einem unfruchtbaren Jahrgang, zu der Zeit, in welcher sonst die Früchte zu reifen pflegen, solche sucht, doch nicht gesagt werden, daſs es zur Unzeit sei, viel- mehr könnte ein Miſsjahr gerade dadurch bezeichnet wer- den, daſs, ὅτε ἦλϑεν ὁ καιρὸς τῶν καρπῶν, man nirgends welche gefunden habe. Jedenfalls, wenn der ganze Jahr- gang die Feigen, eine in Palästina so häufige Frucht, nicht begünstigte, muſste Jesus dieſs fast ebensogut wissen, als wenn die unrechte Jahrszeit war: so daſs das Räthsel bleibt, wie Jesus über eine Beschaffenheit des Baums, wel- che in Folge ihm bekannter Umstände nicht anders sein konnte, so ungehalten sein mochte. Allein erinnern wir uns doch nur, wer es ist, dem wir jenen Zusaz verdanken. Es ist Markus, welcher in seinem erläuternden, veranschaulichenden Bestreben so Man- ches aus seinem Eignen zusezt, und dabei, wie längst an- erkannt ist, und auch wir auf unsrem Wege schon zur Genüge gefunden haben, nicht immer auf die überlegteste Weise zu Werke geht. So hier nimmt er gleich das erste Auffallende, was ihm begegnet, daſs der Baum keine Früchte hatte, und ist eilig mit der Erklärung bei der Hand, es werde die Zeit nicht gewesen sein; merkt aber nicht, daſs er, indem er physikalisch die Leerheit des Baums erklärt, dadurch das Verfahren Jesu moralisch unerklär- lich macht. Auch die oben erwähnte Abweichung von Mat- thäus in Betreff der Zeit, innerhalb welcher der Baum verdorrte, ist, weit entfernt, eine gröſsere Urkundlichkeit des Markus in dieser Erzählung 12), oder eine Neigung zu natürlicher Erklärung des Wunderbaren zu beweisen, wieder nur aus demselben veranschaulichenden Bestreben, wie der zulezt betrachtete Zusaz, hervorgegangen. Das 12) Wie Sieffert meint, über den Ursprung u. s. f. S. 113 ff. Vergl. dagegen meine Recens, in den Jahrh. f. wiss. Kritik, Nov. 1834.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/263
Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 244. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/263>, abgerufen am 22.11.2024.