sein, sich dazu verstehen konnte, eine Zerstörung seines hochgeachteten Heiligthums als bevorstehend zu denken 17). Nur in einer dem Judenthum und namentlich dem Tempel- dienst feindlichen Partei, scheint es, konnte sich vor der wirklichen Zerstörung des Tempels, -- bei den Juden selbst erst mit diesem Erfolg -- eine solche Auslegung der Danielischen Stelle bilden. Zu Jesu Lebzeiten aber war sein und seiner Anhänger Gegensaz gegen den Tempeldienst noch nicht entwickelt, da ja er selbst sich vielmehr des Tempels gegen Entweihungen annahm (Matth. 21, 12 f. parall.), und nach seiner Himmelfahrt die Jünger im Tem- pel sich versammelten (Luc. 24, 53.). Von hier aus also kann die Vermuthung entstehen, es mögen diese Reden in der Bestimmtheit, wie sie jezt vor uns liegen, nicht von Jesu selbst, noch aus seiner Zeit, herrühren, sondern spä- ter in einer Periode entstanden sein, in welcher jener Ge- gensaz entwickelt oder die Zerstörung des Tempels bereits erfolgt war.
Dass die Weissagungen, wie wir sie im ersten Evan- gelium lesen, noch vor dem Falle des jüdischen Heiligthums aufgezeichnet sein müssen, hat man daraus geschlossen, dass diesem Evangelium zufolge unmittelbar nach diesem Ereigniss die Zukunft Christi eintreten soll, was, nachdem der Tempel bereits zerstört war, nicht mehr ebenso erwar- tet werden konnte 18). Vergleicht man die Darstellung im dritten Evangelium, so ist hier nicht allein das eutheos ver- mieden, sondern auch zwischen die Zerstörung Jerusalems und die Zeichen der Ankunft des Messias ausdrücklich eine Zwischenzeit eingeschoben, während welcher Ierousalem esai patoumene upo ethnon, akhri plerothosi kairoi ethnon (21, 24.). Dazu kommt, dass das Gemälde der Verwü- stung, soweit es Jerusalem betrifft, bei Lukas weit be-
17) s. Tholuck, Comm. z. Joh. S. 365.
18)de Wette, Einl. in das N. T. §. 97.
Erstes Kapitel. §. 112.
sein, sich dazu verstehen konnte, eine Zerstörung seines hochgeachteten Heiligthums als bevorstehend zu denken 17). Nur in einer dem Judenthum und namentlich dem Tempel- dienst feindlichen Partei, scheint es, konnte sich vor der wirklichen Zerstörung des Tempels, — bei den Juden selbst erst mit diesem Erfolg — eine solche Auslegung der Danielischen Stelle bilden. Zu Jesu Lebzeiten aber war sein und seiner Anhänger Gegensaz gegen den Tempeldienst noch nicht entwickelt, da ja er selbst sich vielmehr des Tempels gegen Entweihungen annahm (Matth. 21, 12 f. parall.), und nach seiner Himmelfahrt die Jünger im Tem- pel sich versammelten (Luc. 24, 53.). Von hier aus also kann die Vermuthung entstehen, es mögen diese Reden in der Bestimmtheit, wie sie jezt vor uns liegen, nicht von Jesu selbst, noch aus seiner Zeit, herrühren, sondern spä- ter in einer Periode entstanden sein, in welcher jener Ge- gensaz entwickelt oder die Zerstörung des Tempels bereits erfolgt war.
Daſs die Weissagungen, wie wir sie im ersten Evan- gelium lesen, noch vor dem Falle des jüdischen Heiligthums aufgezeichnet sein müssen, hat man daraus geschlossen, daſs diesem Evangelium zufolge unmittelbar nach diesem Ereigniſs die Zukunft Christi eintreten soll, was, nachdem der Tempel bereits zerstört war, nicht mehr ebenso erwar- tet werden konnte 18). Vergleicht man die Darstellung im dritten Evangelium, so ist hier nicht allein das εὐϑέως ver- mieden, sondern auch zwischen die Zerstörung Jerusalems und die Zeichen der Ankunft des Messias ausdrücklich eine Zwischenzeit eingeschoben, während welcher Ἱερουσαλὴμ ἔςαι πατουμένη ὑπὸ ἐϑνῶν, ἄχρι πληρωϑῶσι καιροὶ ἐϑνῶν (21, 24.). Dazu kommt, daſs das Gemälde der Verwü- stung, soweit es Jerusalem betrifft, bei Lukas weit be-
17) s. Tholuck, Comm. z. Joh. S. 365.
18)de Wette, Einl. in das N. T. §. 97.
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Erstes Kapitel. §. 112.
sein, sich dazu verstehen konnte, eine Zerstörung seines
hochgeachteten Heiligthums als bevorstehend zu denken 17).
Nur in einer dem Judenthum und namentlich dem Tempel-
dienst feindlichen Partei, scheint es, konnte sich vor der
wirklichen Zerstörung des Tempels, — bei den Juden
selbst erst mit diesem Erfolg — eine solche Auslegung der
Danielischen Stelle bilden. Zu Jesu Lebzeiten aber war
sein und seiner Anhänger Gegensaz gegen den Tempeldienst
noch nicht entwickelt, da ja er selbst sich vielmehr des
Tempels gegen Entweihungen annahm (Matth. 21, 12 f.
parall.), und nach seiner Himmelfahrt die Jünger im Tem-
pel sich versammelten (Luc. 24, 53.). Von hier aus also
kann die Vermuthung entstehen, es mögen diese Reden in
der Bestimmtheit, wie sie jezt vor uns liegen, nicht von
Jesu selbst, noch aus seiner Zeit, herrühren, sondern spä-
ter in einer Periode entstanden sein, in welcher jener Ge-
gensaz entwickelt oder die Zerstörung des Tempels bereits
erfolgt war.
Daſs die Weissagungen, wie wir sie im ersten Evan-
gelium lesen, noch vor dem Falle des jüdischen Heiligthums
aufgezeichnet sein müssen, hat man daraus geschlossen,
daſs diesem Evangelium zufolge unmittelbar nach diesem
Ereigniſs die Zukunft Christi eintreten soll, was, nachdem
der Tempel bereits zerstört war, nicht mehr ebenso erwar-
tet werden konnte 18). Vergleicht man die Darstellung im
dritten Evangelium, so ist hier nicht allein das εὐϑέως ver-
mieden, sondern auch zwischen die Zerstörung Jerusalems
und die Zeichen der Ankunft des Messias ausdrücklich eine
Zwischenzeit eingeschoben, während welcher Ἱερουσαλὴμ
ἔςαι πατουμένη ὑπὸ ἐϑνῶν, ἄχρι πληρωϑῶσι καιροὶ ἐϑνῶν
(21, 24.). Dazu kommt, daſs das Gemälde der Verwü-
stung, soweit es Jerusalem betrifft, bei Lukas weit be-
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18) de Wette, Einl. in das N. T. §. 97.
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 365. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/384>, abgerufen am 22.11.2024.
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