Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.Erstes Kapitel. §. 112. Übereinstimmung mit dem Erfolge näher bestimmt hat: sowird man nicht umhinkönnen, mit geprüften Kritikern in dem Unterschied dieser beiden Darstellungen den eines va- ticinium ante und post eventum zu finden 19). Scheinen wir hiedurch in die Annahme, welche wir eben vermei- den wollten, dass nämlich vor der wirklichen Zerstörung Jerusalems und des Tempels eine solche Katastrophe ge- weissagt worden sei, in Bezug auf die Darstellung des er- sten Evangeliums zurückzufallen: so bleibt es uns doch un- benommen, die Entstehung des Orakels in seiner Form bei Matthäus so nahe als möglich an die Zerstörung Jerusa- lems hinanzurücken, und uns zu denken, wie der Verfas- ser des Buchs Daniel mitten unter den Kämpfen seiner Na- tion mit Antiochus Epiphanes, doch da es sich für die Israe- liten schon zum Sieg zu wenden begann, den baldigen Sturz des Tyrannen, die Ankunft des Menschensohns in den Wolken, und den Eintritt des ewigen Reichs der Hei- ligen geweissagt hatte 20): ebenso seien mitten unter der Bedrängniss des jüdischen Kriegs und der Belagerung der Stadt, doch da die Sache der Juden sich schon zum Unter- gange neigte, und namentlich der Tempel, als der den Römern wohlbekannte Herd des jüdischen Nationalgefühls, verloren gegeben werden musste, die vorliegenden Orakel mit dem Troste des sogleich nach der gegenwärtigen Drang- sal eintretenden messianischen Reiches in der Form, wie das erste Evangelium sie giebt, entstanden, und hierauf nach dem Erfolg in der Art, wie wir sie jezt im dritten Evangelium lesen, umgebildet worden: so dass wir also bei Lukas ein vaticinium post eventum, bei Matthäus aber nicht sowohl eines ante eventum, als in eventu vor uns hätten. Eine andere Einwendung gegen die Ächtheit der syn- 19) de Wette, a. a. O. und §. 101. 20) de Wette, Einl. in das A. T. §. 257.
Erstes Kapitel. §. 112. Übereinstimmung mit dem Erfolge näher bestimmt hat: sowird man nicht umhinkönnen, mit geprüften Kritikern in dem Unterschied dieser beiden Darstellungen den eines va- ticinium ante und post eventum zu finden 19). Scheinen wir hiedurch in die Annahme, welche wir eben vermei- den wollten, daſs nämlich vor der wirklichen Zerstörung Jerusalems und des Tempels eine solche Katastrophe ge- weissagt worden sei, in Bezug auf die Darstellung des er- sten Evangeliums zurückzufallen: so bleibt es uns doch un- benommen, die Entstehung des Orakels in seiner Form bei Matthäus so nahe als möglich an die Zerstörung Jerusa- lems hinanzurücken, und uns zu denken, wie der Verfas- ser des Buchs Daniel mitten unter den Kämpfen seiner Na- tion mit Antiochus Epiphanes, doch da es sich für die Israë- liten schon zum Sieg zu wenden begann, den baldigen Sturz des Tyrannen, die Ankunft des Menschensohns in den Wolken, und den Eintritt des ewigen Reichs der Hei- ligen geweissagt hatte 20): ebenso seien mitten unter der Bedrängniſs des jüdischen Kriegs und der Belagerung der Stadt, doch da die Sache der Juden sich schon zum Unter- gange neigte, und namentlich der Tempel, als der den Römern wohlbekannte Herd des jüdischen Nationalgefühls, verloren gegeben werden muſste, die vorliegenden Orakel mit dem Troste des sogleich nach der gegenwärtigen Drang- sal eintretenden messianischen Reiches in der Form, wie das erste Evangelium sie giebt, entstanden, und hierauf nach dem Erfolg in der Art, wie wir sie jezt im dritten Evangelium lesen, umgebildet worden: so daſs wir also bei Lukas ein vaticinium post eventum, bei Matthäus aber nicht sowohl eines ante eventum, als in eventu vor uns hätten. Eine andere Einwendung gegen die Ächtheit der syn- 19) de Wette, a. a. O. und §. 101. 20) de Wette, Einl. in das A. T. §. 257.
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0386" n="367"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Erstes Kapitel</hi>. §. 112.</fw><lb/> Übereinstimmung mit dem Erfolge näher bestimmt hat: so<lb/> wird man nicht umhinkönnen, mit geprüften Kritikern in<lb/> dem Unterschied dieser beiden Darstellungen den eines <hi rendition="#i">va-<lb/> ticinium ante</hi> und <hi rendition="#i">post eventum</hi> zu finden <note place="foot" n="19)"><hi rendition="#k">de Wette</hi>, a. a. O. und §. 101.</note>. Scheinen<lb/> wir hiedurch in die Annahme, welche wir eben vermei-<lb/> den wollten, daſs nämlich vor der wirklichen Zerstörung<lb/> Jerusalems und des Tempels eine solche Katastrophe ge-<lb/> weissagt worden sei, in Bezug auf die Darstellung des er-<lb/> sten Evangeliums zurückzufallen: so bleibt es uns doch un-<lb/> benommen, die Entstehung des Orakels in seiner Form bei<lb/> Matthäus so nahe als möglich an die Zerstörung Jerusa-<lb/> lems hinanzurücken, und uns zu denken, wie der Verfas-<lb/> ser des Buchs Daniel mitten unter den Kämpfen seiner Na-<lb/> tion mit Antiochus Epiphanes, doch da es sich für die Israë-<lb/> liten schon zum Sieg zu wenden begann, den baldigen<lb/> Sturz des Tyrannen, die Ankunft des Menschensohns in<lb/> den Wolken, und den Eintritt des ewigen Reichs der Hei-<lb/> ligen geweissagt hatte <note place="foot" n="20)"><hi rendition="#k">de Wette</hi>, Einl. in das A. T. §. 257.</note>: ebenso seien mitten unter der<lb/> Bedrängniſs des jüdischen Kriegs und der Belagerung der<lb/> Stadt, doch da die Sache der Juden sich schon zum Unter-<lb/> gange neigte, und namentlich der Tempel, als der den<lb/> Römern wohlbekannte Herd des jüdischen Nationalgefühls,<lb/> verloren gegeben werden muſste, die vorliegenden Orakel<lb/> mit dem Troste des sogleich nach der gegenwärtigen Drang-<lb/> sal eintretenden messianischen Reiches in der Form, wie<lb/> das erste Evangelium sie giebt, entstanden, und hierauf<lb/> nach dem Erfolg in der Art, wie wir sie jezt im dritten<lb/> Evangelium lesen, umgebildet worden: so daſs wir also<lb/> bei Lukas ein <hi rendition="#i">vaticinium post eventum</hi>, bei Matthäus aber<lb/> nicht sowohl eines <hi rendition="#i">ante eventum</hi>, als <hi rendition="#i">in eventu</hi> vor uns hätten.</p><lb/> <p>Eine andere Einwendung gegen die Ächtheit der syn-<lb/> optischen Reden über die Parusie hat auf unsrem Stand-<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [367/0386]
Erstes Kapitel. §. 112.
Übereinstimmung mit dem Erfolge näher bestimmt hat: so
wird man nicht umhinkönnen, mit geprüften Kritikern in
dem Unterschied dieser beiden Darstellungen den eines va-
ticinium ante und post eventum zu finden 19). Scheinen
wir hiedurch in die Annahme, welche wir eben vermei-
den wollten, daſs nämlich vor der wirklichen Zerstörung
Jerusalems und des Tempels eine solche Katastrophe ge-
weissagt worden sei, in Bezug auf die Darstellung des er-
sten Evangeliums zurückzufallen: so bleibt es uns doch un-
benommen, die Entstehung des Orakels in seiner Form bei
Matthäus so nahe als möglich an die Zerstörung Jerusa-
lems hinanzurücken, und uns zu denken, wie der Verfas-
ser des Buchs Daniel mitten unter den Kämpfen seiner Na-
tion mit Antiochus Epiphanes, doch da es sich für die Israë-
liten schon zum Sieg zu wenden begann, den baldigen
Sturz des Tyrannen, die Ankunft des Menschensohns in
den Wolken, und den Eintritt des ewigen Reichs der Hei-
ligen geweissagt hatte 20): ebenso seien mitten unter der
Bedrängniſs des jüdischen Kriegs und der Belagerung der
Stadt, doch da die Sache der Juden sich schon zum Unter-
gange neigte, und namentlich der Tempel, als der den
Römern wohlbekannte Herd des jüdischen Nationalgefühls,
verloren gegeben werden muſste, die vorliegenden Orakel
mit dem Troste des sogleich nach der gegenwärtigen Drang-
sal eintretenden messianischen Reiches in der Form, wie
das erste Evangelium sie giebt, entstanden, und hierauf
nach dem Erfolg in der Art, wie wir sie jezt im dritten
Evangelium lesen, umgebildet worden: so daſs wir also
bei Lukas ein vaticinium post eventum, bei Matthäus aber
nicht sowohl eines ante eventum, als in eventu vor uns hätten.
Eine andere Einwendung gegen die Ächtheit der syn-
optischen Reden über die Parusie hat auf unsrem Stand-
19) de Wette, a. a. O. und §. 101.
20) de Wette, Einl. in das A. T. §. 257.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |