Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.Erstes Kapitel. §. 112. reden lassen, von seiner Wiederkunft gesprochen, und dierichtige Erkenntniss und Beobachtung der Zeichen dersel- ben als etwas so Wichtiges behandelt hat: so ist es unbe- greiflich, wie der Verfasser des vierten Evangeliums das Alles übergehen konnte, wenn er anders ein unmittelba- rer Schüler Jesu war. Das gewöhnliche Reden, er habe diess aus den Synoptikern oder der mündlichen Verkündi- gung als bekannt vorausgesezt, reicht hier um so weniger aus, je mehr alles, was Weissagung ist, namentlich einer so ersehnten und gefürchteten Katastrophe, der Missdeu- tung blosssteht, wie wir aus der zulezt erwähnten Berich- tigung sehen, welche der Verfasser von Joh. 21. an der Meinung seiner Zeitgenossen über die dem Johannes von Jesu gegebene Verheissung anzubringen für nöthig fand. Hier also ein verständigendes Wort zu reden, wie zweck- mässig und verdienstlich wäre es gewesen, besonders da die Darstellung des ersten Evangeliums, welche sogleich auf die Zerstörung des Tempels das Ende der Dinge fol- gen liess, je näher jenes Ereigniss kam, und noch mehr als es vorüber war, immer bedenklicher und anstössiger wer- den musste, und wer war eher im Stande, eine solche Be- richtigung zu geben, als der Lieblingsjünger, zumal wenn er nach Marc. 13, 3. der einzige Evangelist war, der den Erörterungen Jesu über diesen Gegenstand angewohnt hat- te? Daher sucht man auch hier einen besondern Grund seines Stillschweigens in der angeblichen Bestimmung sei- nes Evangeliums für nichtjüdische, idealisirende Gnostiker, für deren Standpunkt jene Schilderungen nicht gepasst ha- ben, und desshalb weggelassen worden seien 26). Allein gerade solchen Lesern gegenüber wäre es eine pflichtwi- drige Nachgiebigkeit, eine Bestärkung in ihrer idealisiren- den Richtung gewesen, wenn Johannes ihnen zulieb die reale Seite an der Wiederkunft Christi hätte zurücktre- 26) Olshausen, 1, S. 870. 24 *
Erstes Kapitel. §. 112. reden lassen, von seiner Wiederkunft gesprochen, und dierichtige Erkenntniſs und Beobachtung der Zeichen dersel- ben als etwas so Wichtiges behandelt hat: so ist es unbe- greiflich, wie der Verfasser des vierten Evangeliums das Alles übergehen konnte, wenn er anders ein unmittelba- rer Schüler Jesu war. Das gewöhnliche Reden, er habe dieſs aus den Synoptikern oder der mündlichen Verkündi- gung als bekannt vorausgesezt, reicht hier um so weniger aus, je mehr alles, was Weissagung ist, namentlich einer so ersehnten und gefürchteten Katastrophe, der Miſsdeu- tung bloſssteht, wie wir aus der zulezt erwähnten Berich- tigung sehen, welche der Verfasser von Joh. 21. an der Meinung seiner Zeitgenossen über die dem Johannes von Jesu gegebene Verheiſsung anzubringen für nöthig fand. Hier also ein verständigendes Wort zu reden, wie zweck- mäſsig und verdienstlich wäre es gewesen, besonders da die Darstellung des ersten Evangeliums, welche sogleich auf die Zerstörung des Tempels das Ende der Dinge fol- gen lieſs, je näher jenes Ereigniſs kam, und noch mehr als es vorüber war, immer bedenklicher und anstössiger wer- den muſste, und wer war eher im Stande, eine solche Be- richtigung zu geben, als der Lieblingsjünger, zumal wenn er nach Marc. 13, 3. der einzige Evangelist war, der den Erörterungen Jesu über diesen Gegenstand angewohnt hat- te? Daher sucht man auch hier einen besondern Grund seines Stillschweigens in der angeblichen Bestimmung sei- nes Evangeliums für nichtjüdische, idealisirende Gnostiker, für deren Standpunkt jene Schilderungen nicht gepaſst ha- ben, und deſshalb weggelassen worden seien 26). Allein gerade solchen Lesern gegenüber wäre es eine pflichtwi- drige Nachgiebigkeit, eine Bestärkung in ihrer idealisiren- den Richtung gewesen, wenn Johannes ihnen zulieb die reale Seite an der Wiederkunft Christi hätte zurücktre- 26) Olshausen, 1, S. 870. 24 *
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Erstes Kapitel. §. 112.
reden lassen, von seiner Wiederkunft gesprochen, und die
richtige Erkenntniſs und Beobachtung der Zeichen dersel-
ben als etwas so Wichtiges behandelt hat: so ist es unbe-
greiflich, wie der Verfasser des vierten Evangeliums das
Alles übergehen konnte, wenn er anders ein unmittelba-
rer Schüler Jesu war. Das gewöhnliche Reden, er habe
dieſs aus den Synoptikern oder der mündlichen Verkündi-
gung als bekannt vorausgesezt, reicht hier um so weniger
aus, je mehr alles, was Weissagung ist, namentlich einer
so ersehnten und gefürchteten Katastrophe, der Miſsdeu-
tung bloſssteht, wie wir aus der zulezt erwähnten Berich-
tigung sehen, welche der Verfasser von Joh. 21. an der
Meinung seiner Zeitgenossen über die dem Johannes von
Jesu gegebene Verheiſsung anzubringen für nöthig fand.
Hier also ein verständigendes Wort zu reden, wie zweck-
mäſsig und verdienstlich wäre es gewesen, besonders da
die Darstellung des ersten Evangeliums, welche sogleich
auf die Zerstörung des Tempels das Ende der Dinge fol-
gen lieſs, je näher jenes Ereigniſs kam, und noch mehr als
es vorüber war, immer bedenklicher und anstössiger wer-
den muſste, und wer war eher im Stande, eine solche Be-
richtigung zu geben, als der Lieblingsjünger, zumal wenn
er nach Marc. 13, 3. der einzige Evangelist war, der den
Erörterungen Jesu über diesen Gegenstand angewohnt hat-
te? Daher sucht man auch hier einen besondern Grund
seines Stillschweigens in der angeblichen Bestimmung sei-
nes Evangeliums für nichtjüdische, idealisirende Gnostiker,
für deren Standpunkt jene Schilderungen nicht gepaſst ha-
ben, und deſshalb weggelassen worden seien 26). Allein
gerade solchen Lesern gegenüber wäre es eine pflichtwi-
drige Nachgiebigkeit, eine Bestärkung in ihrer idealisiren-
den Richtung gewesen, wenn Johannes ihnen zulieb die
reale Seite an der Wiederkunft Christi hätte zurücktre-
26) Olshausen, 1, S. 870.
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