Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.Dritter Abschnitt. ten lassen. Dem Hang dieser Leute, das äusserlich Ge-schichtliche des Christenthums zu verflüchtigen, musste der Apostel dadurch entgegentreten, dass er eben diese Seite gebührend hervorhob; wie er in seinem Brief ihrem Do- ketismus gegenüber die Leiblichkeit Jesu premirt, so muss- te er im Gegensaz gegen ihren Idealismus an der Wieder- kunft Christi die äusseren Momente ihres Eintritts mit be- sonderem Fleiss hervorkehren. Statt dessen spricht er selbst fast wie ein Gnostiker, und sucht die Wiederkunft Christi von der Bedeutung eines äussern, zukünftigen Vor- gangs immer wieder in das Innere und die Gegenwart zu- rückzurufen. Es ist also nicht so übertrieben, wie Ols- hausen meint, wenn Fleck behauptet, dass die synoptische und die johanneische Darstellung der Lehre Jesu von sei- ner Wiederkunft sich ausschliessend zu einander verhal- ten 27); sondern, wenn der Verfasser des vierten Evange- liums ein Apostel ist, so können die Reden, welche die drei ersten Evangelisten Jesu über seine Parusie in den Mund legen, nicht so von ihm gesprochen worden sein, und umgekehrt. Doch, wie gesagt, dieses Arguments kön- nen wir uns nicht bedienen, da wir die Voraussetzung ei- nes apostolischen Ursprungs für das vierte Evangelium längst aufgegeben haben. Auf unserem Standpunkt kön- nen wir uns nun aber das Verhältniss der johanneischen Darstellung zur synoptischen vollkommen erklären. In Pa- lästina, wo sich die in den drei ersten Evangelien aufge- zeichnete Tradition bildete, wurde frühzeitig die daselbst verbreitete Lehre von einer feierlichen Ankunft des Mes- sias in ihrer ganzen palästinischen Sinnlichkeit in die christ- liche Verkündigung aufgenommen, und nach der Zerstö- rung Jerusalems noch näher bestimmt: wogegen in dem hellenistisch-theosophischen Kreise, in welchem das vierte Evangelium entstand, diese Idee ihr sinnliches Gewand ab- 27) Fleck, de regno divino, p. 483.
Dritter Abschnitt. ten lassen. Dem Hang dieser Leute, das äusserlich Ge-schichtliche des Christenthums zu verflüchtigen, muſste der Apostel dadurch entgegentreten, daſs er eben diese Seite gebührend hervorhob; wie er in seinem Brief ihrem Do- ketismus gegenüber die Leiblichkeit Jesu premirt, so muſs- te er im Gegensaz gegen ihren Idealismus an der Wieder- kunft Christi die äusseren Momente ihres Eintritts mit be- sonderem Fleiss hervorkehren. Statt dessen spricht er selbst fast wie ein Gnostiker, und sucht die Wiederkunft Christi von der Bedeutung eines äussern, zukünftigen Vor- gangs immer wieder in das Innere und die Gegenwart zu- rückzurufen. Es ist also nicht so übertrieben, wie Ols- hausen meint, wenn Fleck behauptet, daſs die synoptische und die johanneische Darstellung der Lehre Jesu von sei- ner Wiederkunft sich ausschlieſsend zu einander verhal- ten 27); sondern, wenn der Verfasser des vierten Evange- liums ein Apostel ist, so können die Reden, welche die drei ersten Evangelisten Jesu über seine Parusie in den Mund legen, nicht so von ihm gesprochen worden sein, und umgekehrt. Doch, wie gesagt, dieses Arguments kön- nen wir uns nicht bedienen, da wir die Voraussetzung ei- nes apostolischen Ursprungs für das vierte Evangelium längst aufgegeben haben. Auf unserem Standpunkt kön- nen wir uns nun aber das Verhältniſs der johanneischen Darstellung zur synoptischen vollkommen erklären. In Pa- lästina, wo sich die in den drei ersten Evangelien aufge- zeichnete Tradition bildete, wurde frühzeitig die daselbst verbreitete Lehre von einer feierlichen Ankunft des Mes- sias in ihrer ganzen palästinischen Sinnlichkeit in die christ- liche Verkündigung aufgenommen, und nach der Zerstö- rung Jerusalems noch näher bestimmt: wogegen in dem hellenistisch-theosophischen Kreise, in welchem das vierte Evangelium entstand, diese Idee ihr sinnliches Gewand ab- 27) Fleck, de regno divino, p. 483.
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Dritter Abschnitt.
ten lassen. Dem Hang dieser Leute, das äusserlich Ge-
schichtliche des Christenthums zu verflüchtigen, muſste der
Apostel dadurch entgegentreten, daſs er eben diese Seite
gebührend hervorhob; wie er in seinem Brief ihrem Do-
ketismus gegenüber die Leiblichkeit Jesu premirt, so muſs-
te er im Gegensaz gegen ihren Idealismus an der Wieder-
kunft Christi die äusseren Momente ihres Eintritts mit be-
sonderem Fleiss hervorkehren. Statt dessen spricht er
selbst fast wie ein Gnostiker, und sucht die Wiederkunft
Christi von der Bedeutung eines äussern, zukünftigen Vor-
gangs immer wieder in das Innere und die Gegenwart zu-
rückzurufen. Es ist also nicht so übertrieben, wie Ols-
hausen meint, wenn Fleck behauptet, daſs die synoptische
und die johanneische Darstellung der Lehre Jesu von sei-
ner Wiederkunft sich ausschlieſsend zu einander verhal-
ten 27); sondern, wenn der Verfasser des vierten Evange-
liums ein Apostel ist, so können die Reden, welche die
drei ersten Evangelisten Jesu über seine Parusie in den
Mund legen, nicht so von ihm gesprochen worden sein,
und umgekehrt. Doch, wie gesagt, dieses Arguments kön-
nen wir uns nicht bedienen, da wir die Voraussetzung ei-
nes apostolischen Ursprungs für das vierte Evangelium
längst aufgegeben haben. Auf unserem Standpunkt kön-
nen wir uns nun aber das Verhältniſs der johanneischen
Darstellung zur synoptischen vollkommen erklären. In Pa-
lästina, wo sich die in den drei ersten Evangelien aufge-
zeichnete Tradition bildete, wurde frühzeitig die daselbst
verbreitete Lehre von einer feierlichen Ankunft des Mes-
sias in ihrer ganzen palästinischen Sinnlichkeit in die christ-
liche Verkündigung aufgenommen, und nach der Zerstö-
rung Jerusalems noch näher bestimmt: wogegen in dem
hellenistisch-theosophischen Kreise, in welchem das vierte
Evangelium entstand, diese Idee ihr sinnliches Gewand ab-
27) Fleck, de regno divino, p. 483.
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