Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.Viertes Kapitel. §. 136. dem der erste Schrecken vorüber war, der frühere Ein-druck wieder zu regen begann: entstand in ihnen von selbst das psychologische Bedürfniss, den Widerspruch der lez- ten Schicksale Jesu mit ihrer früheren Ansicht von ihm aufzulösen, in ihren Begriff vom Messias das Merkmal des Leidens und Todes mitaufzunehmen. Da aber Begreifen bei den Juden jener Zeit eben nur hiess, etwas aus den heiligen Schriften ableiten: so waren sie an diese gewie- sen, ob nicht in ihnen vielleicht Andeutungen eines lei- denden und sterbenden Messias sich fänden. Dergleichen Andeutungen mussten sich den Jüngern Jesu, welche sie zu finden wünschten, so fremd auch die Idee eines solchen Messias dem A. T. ist, dennoch in allen denjenigen poeti- schen und prophetischen Stellen darbieten, welche, wie Jes. 53, Ps. 22, die Männer Gottes als geplagt und ge- beugt bis zum Tode darstellten. Das ist es auch, was Lu- kas als das Hauptgeschäft des auferstandenen Jesus bei seinen Zusammenkünften mit den Jüngern heraushebt, dass er arxamenos apo Moseos kai apo panton ton propheton, diermeneuen autois en pasais tais graphais ta peri autou, dass nämlich tauta edei pathein ton Khrison (24, 26 f. 44 ff.). Hatten sie auf diese Weise Schmach, Leiden und Tod in ihre Messiasidee aufgenommen: so war ihnen der schmach- voll getödtete Jesus nicht verloren, sondern geblieben, er war durch den Tod nur in seine messianische doxa einge- gangen (Luc. 24, 26.), in welcher er unsichtbar mit ihnen war pasas tas emeras, eos tes sunteleias tou aionos (Matth. 28, 20.). Aus dieser Herrlichkeit aber, in welcher er lebte, wie konnte er es unterlassen, den Seinigen Kun- de von sich zu geben? und wie konnten sie, wenn ihnen der Sinn für die bisher verborgene Lehre der Schrift vom sterbenden Messias aufgieng, und in ungewohnter Begei- sterung ihre kardia kaiomene war (Luc. 24, 32.), umhin, diess als Einwirkung ihres verherrlichten Christus auf sie, als ein von ihm ausgehendes dianoigein ton noun (V. 45.), ja 42 *
Viertes Kapitel. §. 136. dem der erste Schrecken vorüber war, der frühere Ein-druck wieder zu regen begann: entstand in ihnen von selbst das psychologische Bedürfniſs, den Widerspruch der lez- ten Schicksale Jesu mit ihrer früheren Ansicht von ihm aufzulösen, in ihren Begriff vom Messias das Merkmal des Leidens und Todes mitaufzunehmen. Da aber Begreifen bei den Juden jener Zeit eben nur hieſs, etwas aus den heiligen Schriften ableiten: so waren sie an diese gewie- sen, ob nicht in ihnen vielleicht Andeutungen eines lei- denden und sterbenden Messias sich fänden. Dergleichen Andeutungen muſsten sich den Jüngern Jesu, welche sie zu finden wünschten, so fremd auch die Idee eines solchen Messias dem A. T. ist, dennoch in allen denjenigen poëti- schen und prophetischen Stellen darbieten, welche, wie Jes. 53, Ps. 22, die Männer Gottes als geplagt und ge- beugt bis zum Tode darstellten. Das ist es auch, was Lu- kas als das Hauptgeschäft des auferstandenen Jesus bei seinen Zusammenkünften mit den Jüngern heraushebt, daſs er ἀρξάμενος ἀπὸ Μωσέως καὶ ἀπὸ πάντων τῶν προφητῶν, διηρμήνευεν αὐτοῖς ἐν πάσαις ταῖς γραφαῖς τὰ περὶ αὑτοῦ, daſs nämlich ταῦτα ἔδει παϑεῖν τὸν Χριςόν (24, 26 f. 44 ff.). Hatten sie auf diese Weise Schmach, Leiden und Tod in ihre Messiasidee aufgenommen: so war ihnen der schmach- voll getödtete Jesus nicht verloren, sondern geblieben, er war durch den Tod nur in seine messianische δόξα einge- gangen (Luc. 24, 26.), in welcher er unsichtbar mit ihnen war πάσας τὰς ἡμέρας, ἕως τῆς συντελείας τοῦ αἰῶνος (Matth. 28, 20.). Aus dieser Herrlichkeit aber, in welcher er lebte, wie konnte er es unterlassen, den Seinigen Kun- de von sich zu geben? und wie konnten sie, wenn ihnen der Sinn für die bisher verborgene Lehre der Schrift vom sterbenden Messias aufgieng, und in ungewohnter Begei- sterung ihre καρδία καιομένη war (Luc. 24, 32.), umhin, dieſs als Einwirkung ihres verherrlichten Christus auf sie, als ein von ihm ausgehendes διανοίγειν τὸν νοῦν (V. 45.), ja 42 *
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Viertes Kapitel. §. 136.
dem der erste Schrecken vorüber war, der frühere Ein-
druck wieder zu regen begann: entstand in ihnen von selbst
das psychologische Bedürfniſs, den Widerspruch der lez-
ten Schicksale Jesu mit ihrer früheren Ansicht von ihm
aufzulösen, in ihren Begriff vom Messias das Merkmal des
Leidens und Todes mitaufzunehmen. Da aber Begreifen
bei den Juden jener Zeit eben nur hieſs, etwas aus den
heiligen Schriften ableiten: so waren sie an diese gewie-
sen, ob nicht in ihnen vielleicht Andeutungen eines lei-
denden und sterbenden Messias sich fänden. Dergleichen
Andeutungen muſsten sich den Jüngern Jesu, welche sie
zu finden wünschten, so fremd auch die Idee eines solchen
Messias dem A. T. ist, dennoch in allen denjenigen poëti-
schen und prophetischen Stellen darbieten, welche, wie
Jes. 53, Ps. 22, die Männer Gottes als geplagt und ge-
beugt bis zum Tode darstellten. Das ist es auch, was Lu-
kas als das Hauptgeschäft des auferstandenen Jesus bei
seinen Zusammenkünften mit den Jüngern heraushebt, daſs
er ἀρξάμενος ἀπὸ Μωσέως καὶ ἀπὸ πάντων τῶν προφητῶν,
διηρμήνευεν αὐτοῖς ἐν πάσαις ταῖς γραφαῖς τὰ περὶ αὑτοῦ,
daſs nämlich ταῦτα ἔδει παϑεῖν τὸν Χριςόν (24, 26 f. 44 ff.).
Hatten sie auf diese Weise Schmach, Leiden und Tod in
ihre Messiasidee aufgenommen: so war ihnen der schmach-
voll getödtete Jesus nicht verloren, sondern geblieben, er
war durch den Tod nur in seine messianische δόξα einge-
gangen (Luc. 24, 26.), in welcher er unsichtbar mit ihnen
war πάσας τὰς ἡμέρας, ἕως τῆς συντελείας τοῦ αἰῶνος
(Matth. 28, 20.). Aus dieser Herrlichkeit aber, in welcher
er lebte, wie konnte er es unterlassen, den Seinigen Kun-
de von sich zu geben? und wie konnten sie, wenn ihnen
der Sinn für die bisher verborgene Lehre der Schrift vom
sterbenden Messias aufgieng, und in ungewohnter Begei-
sterung ihre καρδία καιομένη war (Luc. 24, 32.), umhin,
dieſs als Einwirkung ihres verherrlichten Christus auf sie,
als ein von ihm ausgehendes διανοίγειν τὸν νοῦν (V. 45.), ja
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