Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.Neuntes Kapitel. §. 89. welche möglicherweise von der leichteren Art gewesensein könnten, der sich auf psychologischem Wege beikom- men liess. Schwieriger in beiden Hinsichten ist die Hei- lung der Gadarener. Denn einmal war Jesus am jenseiti- gen Ufer nicht so bekannt, und dann wird uns der Zustand derselben als ein so heftiger und eingewurzelter Wahnsinn geschildert, dass hier schwerlich ein Wort Jesu genügen konnte, um dem schrecklichen Zustand ein Ende zu ma- chen. Hier reicht somit die natürliche Erklärung von Pau- lus nicht hin, sondern, wenn überhaupt noch etwas von der Erzählung stehen bleiben soll, so müsste man anneh- men, dass, wie andre Theile derselben, so namentlich die Schilderung von dem Zustande des Kranken sagenhaft über- trieben sei. Ebendiess wäre in Bezug auf die Heilung des mondsüchtigen Knaben anzunehmen, da eine von Kindheit an (Marc. V. 21.) dauernde, so heftige und in bestimmten Perioden sich wiederholende Epilepsie etwas zu sehr im Körper eingewurzeltes ist, als dass die Möglichkeit einer so schnellen reinpsychologischen Hülfe glaublich sein könn- te. Dass aber selbst Stummheit und vieljährige Verkrüm- mung, welche doch nicht mit Paulus als blosse närrische Einbildung, man dürfe nicht reden oder sich aufrichten 49), genommen werden kann, auf ein Wort gewichen sei, wird man ohne vorgefasste dogmatische Meinungen sich nicht überreden können. Am wenigsten endlich lässt sich denken, dass auch ohne das Imposante seiner Gegenwart der Wunderthäter aus der Ferne habe wirken können, wie diess Jesus auf die Tochter des kananäischen Weibes ge- than haben soll. So sehr sich also der Natur der Sache nach annehmen 49) ex. Handb. z. d. St. Das Leben Jesu II. Band. 4
Neuntes Kapitel. §. 89. welche möglicherweise von der leichteren Art gewesensein könnten, der sich auf psychologischem Wege beikom- men lieſs. Schwieriger in beiden Hinsichten ist die Hei- lung der Gadarener. Denn einmal war Jesus am jenseiti- gen Ufer nicht so bekannt, und dann wird uns der Zustand derselben als ein so heftiger und eingewurzelter Wahnsinn geschildert, daſs hier schwerlich ein Wort Jesu genügen konnte, um dem schrecklichen Zustand ein Ende zu ma- chen. Hier reicht somit die natürliche Erklärung von Pau- lus nicht hin, sondern, wenn überhaupt noch etwas von der Erzählung stehen bleiben soll, so müſste man anneh- men, daſs, wie andre Theile derselben, so namentlich die Schilderung von dem Zustande des Kranken sagenhaft über- trieben sei. Ebendieſs wäre in Bezug auf die Heilung des mondsüchtigen Knaben anzunehmen, da eine von Kindheit an (Marc. V. 21.) dauernde, so heftige und in bestimmten Perioden sich wiederholende Epilepsie etwas zu sehr im Körper eingewurzeltes ist, als daſs die Möglichkeit einer so schnellen reinpsychologischen Hülfe glaublich sein könn- te. Daſs aber selbst Stummheit und vieljährige Verkrüm- mung, welche doch nicht mit Paulus als bloſse närrische Einbildung, man dürfe nicht reden oder sich aufrichten 49), genommen werden kann, auf ein Wort gewichen sei, wird man ohne vorgefaſste dogmatische Meinungen sich nicht überreden können. Am wenigsten endlich läſst sich denken, daſs auch ohne das Imposante seiner Gegenwart der Wunderthäter aus der Ferne habe wirken können, wie dieſs Jesus auf die Tochter des kananäischen Weibes ge- than haben soll. So sehr sich also der Natur der Sache nach annehmen 49) ex. Handb. z. d. St. Das Leben Jesu II. Band. 4
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Neuntes Kapitel. §. 89.
welche möglicherweise von der leichteren Art gewesen
sein könnten, der sich auf psychologischem Wege beikom-
men lieſs. Schwieriger in beiden Hinsichten ist die Hei-
lung der Gadarener. Denn einmal war Jesus am jenseiti-
gen Ufer nicht so bekannt, und dann wird uns der Zustand
derselben als ein so heftiger und eingewurzelter Wahnsinn
geschildert, daſs hier schwerlich ein Wort Jesu genügen
konnte, um dem schrecklichen Zustand ein Ende zu ma-
chen. Hier reicht somit die natürliche Erklärung von Pau-
lus nicht hin, sondern, wenn überhaupt noch etwas von
der Erzählung stehen bleiben soll, so müſste man anneh-
men, daſs, wie andre Theile derselben, so namentlich die
Schilderung von dem Zustande des Kranken sagenhaft über-
trieben sei. Ebendieſs wäre in Bezug auf die Heilung des
mondsüchtigen Knaben anzunehmen, da eine von Kindheit
an (Marc. V. 21.) dauernde, so heftige und in bestimmten
Perioden sich wiederholende Epilepsie etwas zu sehr im
Körper eingewurzeltes ist, als daſs die Möglichkeit einer
so schnellen reinpsychologischen Hülfe glaublich sein könn-
te. Daſs aber selbst Stummheit und vieljährige Verkrüm-
mung, welche doch nicht mit Paulus als bloſse närrische
Einbildung, man dürfe nicht reden oder sich aufrichten 49),
genommen werden kann, auf ein Wort gewichen sei,
wird man ohne vorgefaſste dogmatische Meinungen sich
nicht überreden können. Am wenigsten endlich läſst sich
denken, daſs auch ohne das Imposante seiner Gegenwart
der Wunderthäter aus der Ferne habe wirken können, wie
dieſs Jesus auf die Tochter des kananäischen Weibes ge-
than haben soll.
So sehr sich also der Natur der Sache nach annehmen
lieſse, daſs Jesus manche an vermeintlich dämonischer Ver-
rückung oder Nervenstörung leidende Personen auf psychische
Weise durch die Übermacht seines Ansehens und Wortes ge-
49) ex. Handb. z. d. St.
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