Diese Aufgabe scheint zunächst nur eine Forderung des Gläubigen an den Kritiker zu sein, jedem dieser bei- den für sich aber sich nicht zu stellen: der Gläubige als solcher, scheint es, bedarf keiner Wiederherstellung des Glaubens, weil dieser in ihm durch keine Kritik vernich- tet worden ist; der Kritiker als solcher nicht, weil er die- se Vernichtung ertragen kann. So gewinnt es das Anse- hen, als ob der Kritiker, wenn er aus dem Brande, den seine Kritik angerichtet, doch das Dogma noch retten will, für seinen Standpunkt etwas Unwahres unternähme, so- fern er, was ihm selbst kein Kleinod ist, aus Accommo- dation an den Glauben als solches behandelt; in Bezug auf den Standpunkt des Gläubigen aber etwas Überflüssiges, indem er sich mit der Rettung von etwas bemüht, was für den, welchem es angehört, gar nicht gefährdet ist.
Dennoch verhält es sich bei näherer Betrachtung an- ders. Wenn gleich nicht entwickelt, so ist doch an sich in jedem Glauben, der noch nicht Wissen ist, der Zwei- fel mitgesezt; der gläubigste Christ hat doch die Kritik als verborgenen Rest des Unglaubens, oder besser als negati- ven Keim des Wissens, in sich, und nur aus dessen be- ständiger Niederhaltung geht ihm der Glaube hervor, der also auch in ihm wesentlich ein wiederhergestellter ist. Ebenso aber wie der Gläubige an sich Zweifler oder Kri- tiker, ist auch umgekehrt der Kritiker an sich der Gläu- bige. Sofern er sich nämlich vom Naturalisten und Frei- geist unterscheidet, sofern seine Kritik im Geiste des neun- zehenten Jahrhunderts wurzelt und nicht in früheren, ist er mit Achtung vor jeder Religion erfüllt, und namentlich des Inhalts der höchsten Religion, der christlichen, als iden- tisch mit der höchsten philosophischen Wahrheit sich be- wusst, und wird also, nachdem er im Verlauf der Kritik durchaus nur die Seite des Unterschieds seiner Überzeu- gung vom christlichen Geschichtsglauben hervorgekehrt hat,
Schluſsabhandlung. §. 140.
Diese Aufgabe scheint zunächst nur eine Forderung des Gläubigen an den Kritiker zu sein, jedem dieser bei- den für sich aber sich nicht zu stellen: der Gläubige als solcher, scheint es, bedarf keiner Wiederherstellung des Glaubens, weil dieser in ihm durch keine Kritik vernich- tet worden ist; der Kritiker als solcher nicht, weil er die- se Vernichtung ertragen kann. So gewinnt es das Anse- hen, als ob der Kritiker, wenn er aus dem Brande, den seine Kritik angerichtet, doch das Dogma noch retten will, für seinen Standpunkt etwas Unwahres unternähme, so- fern er, was ihm selbst kein Kleinod ist, aus Accommo- dation an den Glauben als solches behandelt; in Bezug auf den Standpunkt des Gläubigen aber etwas Überflüssiges, indem er sich mit der Rettung von etwas bemüht, was für den, welchem es angehört, gar nicht gefährdet ist.
Dennoch verhält es sich bei näherer Betrachtung an- ders. Wenn gleich nicht entwickelt, so ist doch an sich in jedem Glauben, der noch nicht Wissen ist, der Zwei- fel mitgesezt; der gläubigste Christ hat doch die Kritik als verborgenen Rest des Unglaubens, oder besser als negati- ven Keim des Wissens, in sich, und nur aus dessen be- ständiger Niederhaltung geht ihm der Glaube hervor, der also auch in ihm wesentlich ein wiederhergestellter ist. Ebenso aber wie der Gläubige an sich Zweifler oder Kri- tiker, ist auch umgekehrt der Kritiker an sich der Gläu- bige. Sofern er sich nämlich vom Naturalisten und Frei- geist unterscheidet, sofern seine Kritik im Geiste des neun- zehenten Jahrhunderts wurzelt und nicht in früheren, ist er mit Achtung vor jeder Religion erfüllt, und namentlich des Inhalts der höchsten Religion, der christlichen, als iden- tisch mit der höchsten philosophischen Wahrheit sich be- wuſst, und wird also, nachdem er im Verlauf der Kritik durchaus nur die Seite des Unterschieds seiner Überzeu- gung vom christlichen Geschichtsglauben hervorgekehrt hat,
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Schluſsabhandlung. §. 140.
Diese Aufgabe scheint zunächst nur eine Forderung
des Gläubigen an den Kritiker zu sein, jedem dieser bei-
den für sich aber sich nicht zu stellen: der Gläubige als
solcher, scheint es, bedarf keiner Wiederherstellung des
Glaubens, weil dieser in ihm durch keine Kritik vernich-
tet worden ist; der Kritiker als solcher nicht, weil er die-
se Vernichtung ertragen kann. So gewinnt es das Anse-
hen, als ob der Kritiker, wenn er aus dem Brande, den
seine Kritik angerichtet, doch das Dogma noch retten will,
für seinen Standpunkt etwas Unwahres unternähme, so-
fern er, was ihm selbst kein Kleinod ist, aus Accommo-
dation an den Glauben als solches behandelt; in Bezug auf
den Standpunkt des Gläubigen aber etwas Überflüssiges,
indem er sich mit der Rettung von etwas bemüht, was für
den, welchem es angehört, gar nicht gefährdet ist.
Dennoch verhält es sich bei näherer Betrachtung an-
ders. Wenn gleich nicht entwickelt, so ist doch an sich
in jedem Glauben, der noch nicht Wissen ist, der Zwei-
fel mitgesezt; der gläubigste Christ hat doch die Kritik als
verborgenen Rest des Unglaubens, oder besser als negati-
ven Keim des Wissens, in sich, und nur aus dessen be-
ständiger Niederhaltung geht ihm der Glaube hervor, der
also auch in ihm wesentlich ein wiederhergestellter ist.
Ebenso aber wie der Gläubige an sich Zweifler oder Kri-
tiker, ist auch umgekehrt der Kritiker an sich der Gläu-
bige. Sofern er sich nämlich vom Naturalisten und Frei-
geist unterscheidet, sofern seine Kritik im Geiste des neun-
zehenten Jahrhunderts wurzelt und nicht in früheren, ist
er mit Achtung vor jeder Religion erfüllt, und namentlich
des Inhalts der höchsten Religion, der christlichen, als iden-
tisch mit der höchsten philosophischen Wahrheit sich be-
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 687. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/706>, abgerufen am 22.11.2024.
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