göttlicher Realität, wie sie der Glaube in der Geschichte Christi findet, eine Sammlung leerer Ideen und Ideale un- terschiebe, statt ein trostreiches Sein zu gewähren, es bei'm drückenden Sollen bewenden lasse. Für die Gewiss- heit, dass Gott sich einmal wirklich mit der menschlichen Natur vereinigt hat, bietet die Anmahnung schlechten Er- saz, dass der Mensch göttlichen Sinnes werden solle; für die Beruhigung, welche dem Gläubigen die durch Chri- stum vollbrachte Erlösung gewährt, ist ihm die Veran- schaulichung der Pflicht kein Äquivalent, sich selbst von der Sünde loszumachen. Aus der versöhnten Welt, in welche ihn das Christenthum versezt, wird der Mensch durch diese Ansicht in eine unversöhnte zurückgeworfen, aus einer seligen in eine unselige; denn wo die Versöh- nung erst zu vollbringen, die Seligkeit erst zu erringen ist, da ist vor der Hand noch Feindschaft und Unselig- keit. Und zwar ist die Hoffnung, aus dieser je ganz her- auszukommen, nach den Principien dieser Ansicht, welche zur Idee nur eine unendliche Annäherung kennt, eine täuschende; denn das nur im endlosen Progress zu Errei- chende ist in der That ein Unerreichbares.
Doch nicht allein der Glaube, sondern auch die Wis- senschaft in ihrer neuesten Entwicklung hat diesen Stand- punkt unzureichend befunden. Sie hat erkannt, dass, die Ideen zum blossen Sollen machen, dem kein Sein entspre- che, sie aufheben heisse: wie das Unendliche als bleiben- des Jenseits des Endlichen festhalten, es verendlichen; sie hat begriffen, dass das Unendliche im Setzen und Wie- deraufheben des Endlichen sich selbst erhält, die Idee in der Gesammtheit ihrer Erscheinungen sich verwirklicht, dass nichts werden kann, was nicht an sich schon ist: also auch vom Menschen sich nicht verlangen lässt, sich mit Gott zu versöhnen und göttlichen Sinnes zu werden, wenn diese Versöhnung und Vereinigung nicht an sich schon vollbracht ist.
Schluſsabhandlung. §. 145.
göttlicher Realität, wie sie der Glaube in der Geschichte Christi findet, eine Sammlung leerer Ideen und Ideale un- terschiebe, statt ein trostreiches Sein zu gewähren, es bei'm drückenden Sollen bewenden lasse. Für die Gewiſs- heit, daſs Gott sich einmal wirklich mit der menschlichen Natur vereinigt hat, bietet die Anmahnung schlechten Er- saz, daſs der Mensch göttlichen Sinnes werden solle; für die Beruhigung, welche dem Gläubigen die durch Chri- stum vollbrachte Erlösung gewährt, ist ihm die Veran- schaulichung der Pflicht kein Äquivalent, sich selbst von der Sünde loszumachen. Aus der versöhnten Welt, in welche ihn das Christenthum versezt, wird der Mensch durch diese Ansicht in eine unversöhnte zurückgeworfen, aus einer seligen in eine unselige; denn wo die Versöh- nung erst zu vollbringen, die Seligkeit erst zu erringen ist, da ist vor der Hand noch Feindschaft und Unselig- keit. Und zwar ist die Hoffnung, aus dieser je ganz her- auszukommen, nach den Principien dieser Ansicht, welche zur Idee nur eine unendliche Annäherung kennt, eine täuschende; denn das nur im endlosen Progreſs zu Errei- chende ist in der That ein Unerreichbares.
Doch nicht allein der Glaube, sondern auch die Wis- senschaft in ihrer neuesten Entwicklung hat diesen Stand- punkt unzureichend befunden. Sie hat erkannt, daſs, die Ideen zum bloſsen Sollen machen, dem kein Sein entspre- che, sie aufheben heiſse: wie das Unendliche als bleiben- des Jenseits des Endlichen festhalten, es verendlichen; sie hat begriffen, daſs das Unendliche im Setzen und Wie- deraufheben des Endlichen sich selbst erhält, die Idee in der Gesammtheit ihrer Erscheinungen sich verwirklicht, daſs nichts werden kann, was nicht an sich schon ist: also auch vom Menschen sich nicht verlangen läſst, sich mit Gott zu versöhnen und göttlichen Sinnes zu werden, wenn diese Versöhnung und Vereinigung nicht an sich schon vollbracht ist.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0747"n="728"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Schluſsabhandlung</hi>. §. 145.</fw><lb/>
göttlicher Realität, wie sie der Glaube in der Geschichte<lb/>
Christi findet, eine Sammlung leerer Ideen und Ideale un-<lb/>
terschiebe, statt ein trostreiches Sein zu gewähren, es<lb/>
bei'm drückenden Sollen bewenden lasse. Für die Gewiſs-<lb/>
heit, daſs Gott sich einmal wirklich mit der menschlichen<lb/>
Natur vereinigt hat, bietet die Anmahnung schlechten Er-<lb/>
saz, daſs der Mensch göttlichen Sinnes werden solle; für<lb/>
die Beruhigung, welche dem Gläubigen die durch Chri-<lb/>
stum vollbrachte Erlösung gewährt, ist ihm die Veran-<lb/>
schaulichung der Pflicht kein Äquivalent, sich selbst von<lb/>
der Sünde loszumachen. Aus der versöhnten Welt, in<lb/>
welche ihn das Christenthum versezt, wird der Mensch<lb/>
durch diese Ansicht in eine unversöhnte zurückgeworfen,<lb/>
aus einer seligen in eine unselige; denn wo die Versöh-<lb/>
nung erst zu vollbringen, die Seligkeit erst zu erringen<lb/>
ist, da ist vor der Hand noch Feindschaft und Unselig-<lb/>
keit. Und zwar ist die Hoffnung, aus dieser je ganz her-<lb/>
auszukommen, nach den Principien dieser Ansicht, welche<lb/>
zur Idee nur eine unendliche Annäherung kennt, eine<lb/>
täuschende; denn das nur im endlosen Progreſs zu Errei-<lb/>
chende ist in der That ein Unerreichbares.</p><lb/><p>Doch nicht allein der Glaube, sondern auch die Wis-<lb/>
senschaft in ihrer neuesten Entwicklung hat diesen Stand-<lb/>
punkt unzureichend befunden. Sie hat erkannt, daſs, die<lb/>
Ideen zum bloſsen Sollen machen, dem kein Sein entspre-<lb/>
che, sie aufheben heiſse: wie das Unendliche als bleiben-<lb/>
des Jenseits des Endlichen festhalten, es verendlichen; sie<lb/>
hat begriffen, daſs das Unendliche im Setzen und Wie-<lb/>
deraufheben des Endlichen sich selbst erhält, die Idee in<lb/>
der Gesammtheit ihrer Erscheinungen sich verwirklicht,<lb/>
daſs nichts werden kann, was nicht an sich schon ist:<lb/>
also auch vom Menschen sich nicht verlangen läſst, sich<lb/>
mit Gott zu versöhnen und göttlichen Sinnes zu werden,<lb/>
wenn diese Versöhnung und Vereinigung nicht an sich<lb/>
schon vollbracht ist.</p></div><lb/></div></body></text></TEI>
[728/0747]
Schluſsabhandlung. §. 145.
göttlicher Realität, wie sie der Glaube in der Geschichte
Christi findet, eine Sammlung leerer Ideen und Ideale un-
terschiebe, statt ein trostreiches Sein zu gewähren, es
bei'm drückenden Sollen bewenden lasse. Für die Gewiſs-
heit, daſs Gott sich einmal wirklich mit der menschlichen
Natur vereinigt hat, bietet die Anmahnung schlechten Er-
saz, daſs der Mensch göttlichen Sinnes werden solle; für
die Beruhigung, welche dem Gläubigen die durch Chri-
stum vollbrachte Erlösung gewährt, ist ihm die Veran-
schaulichung der Pflicht kein Äquivalent, sich selbst von
der Sünde loszumachen. Aus der versöhnten Welt, in
welche ihn das Christenthum versezt, wird der Mensch
durch diese Ansicht in eine unversöhnte zurückgeworfen,
aus einer seligen in eine unselige; denn wo die Versöh-
nung erst zu vollbringen, die Seligkeit erst zu erringen
ist, da ist vor der Hand noch Feindschaft und Unselig-
keit. Und zwar ist die Hoffnung, aus dieser je ganz her-
auszukommen, nach den Principien dieser Ansicht, welche
zur Idee nur eine unendliche Annäherung kennt, eine
täuschende; denn das nur im endlosen Progreſs zu Errei-
chende ist in der That ein Unerreichbares.
Doch nicht allein der Glaube, sondern auch die Wis-
senschaft in ihrer neuesten Entwicklung hat diesen Stand-
punkt unzureichend befunden. Sie hat erkannt, daſs, die
Ideen zum bloſsen Sollen machen, dem kein Sein entspre-
che, sie aufheben heiſse: wie das Unendliche als bleiben-
des Jenseits des Endlichen festhalten, es verendlichen; sie
hat begriffen, daſs das Unendliche im Setzen und Wie-
deraufheben des Endlichen sich selbst erhält, die Idee in
der Gesammtheit ihrer Erscheinungen sich verwirklicht,
daſs nichts werden kann, was nicht an sich schon ist:
also auch vom Menschen sich nicht verlangen läſst, sich
mit Gott zu versöhnen und göttlichen Sinnes zu werden,
wenn diese Versöhnung und Vereinigung nicht an sich
schon vollbracht ist.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 728. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/747>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.