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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Schlussabhandlung. §. 145.
in dem Tiefsten und Gottverwandten des menschlichen Ge-
müthes hat. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, lässt
sich an die Geschichte Christi Alles anknüpfen, was für
das religiöse Vertrauen wichtig, für den reinen Sinn bele-
bend, für das zarte Gefühl anziehend ist. Es ist jene
Geschichte eine heilig schöne Dichtung des allgemeinen
Menschengeschlechts, in der sich alle Bedürfnisse unseres
religiösen Triebs vereinigen, und diess ist eben die höchste
Ehre und der stärkste Beweis für die allgemeine Gültig-
keit des Christenthums. Die Geschichte des Evangeliums
ist im Grunde die Geschichte der idealisch gedachten all-
gemeinen Menschennatur, und zeigt uns in dem Leben des
Einzigen, was der Mensch sein soll, und mit ihm verbun-
den durch Befolgung seiner Lehre und seines Beispiels
wirklich werden kann. Dabei wird nicht geleugnet, dass
dem Paulus, Johannes, Matthäus und Lukas das That-
sache und gewisse Geschichte war, was uns jezt nur noch
als heilige Dichtung erscheinen kann. Aber es war ihnen
auf ihrem Standpunkt aus eben dem inneren Grunde heili-
ge Thatsache und Geschichte, aus welchem es uns jezt auf
unserem Standpunkt heilige Mythe und Dichtung ist. Nur
die Ansichten sind verschieden: die menschliche Natur,
und in ihr der religiöse Trieb, bleibt immer derselbe. Jene
Männer bedurften in ihrer Welt, zur Belebung der religiösen
und moralischen Anlagen in den Menschen ihrer Zeit, Ge-
schichten und Thatsachen, deren innersten Kern aber Ideen
bildeten: uns sind die Thatsachen veraltet und zweifelhaft
geworden, und nur noch um der zum Grunde liegenden
Ideen willen die Erzählungen davon ein Gegenstand der
Verehrung 8).

Diese Ansicht traf zunächst von Seiten des kirchlichen
Bewusstseins der Vorwurf, dass sie statt des Reichthums

8) Ideen über Mythologie u. s. w. in Henke's neuem Magazin,
6, S. 454 ff. vgl. Henke's Museum, 3, S. 455.

Schluſsabhandlung. §. 145.
in dem Tiefsten und Gottverwandten des menschlichen Ge-
müthes hat. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, läſst
sich an die Geschichte Christi Alles anknüpfen, was für
das religiöse Vertrauen wichtig, für den reinen Sinn bele-
bend, für das zarte Gefühl anziehend ist. Es ist jene
Geschichte eine heilig schöne Dichtung des allgemeinen
Menschengeschlechts, in der sich alle Bedürfnisse unseres
religiösen Triebs vereinigen, und dieſs ist eben die höchste
Ehre und der stärkste Beweis für die allgemeine Gültig-
keit des Christenthums. Die Geschichte des Evangeliums
ist im Grunde die Geschichte der idealisch gedachten all-
gemeinen Menschennatur, und zeigt uns in dem Leben des
Einzigen, was der Mensch sein soll, und mit ihm verbun-
den durch Befolgung seiner Lehre und seines Beispiels
wirklich werden kann. Dabei wird nicht geleugnet, daſs
dem Paulus, Johannes, Matthäus und Lukas das That-
sache und gewisse Geschichte war, was uns jezt nur noch
als heilige Dichtung erscheinen kann. Aber es war ihnen
auf ihrem Standpunkt aus eben dem inneren Grunde heili-
ge Thatsache und Geschichte, aus welchem es uns jezt auf
unserem Standpunkt heilige Mythe und Dichtung ist. Nur
die Ansichten sind verschieden: die menschliche Natur,
und in ihr der religiöse Trieb, bleibt immer derselbe. Jene
Männer bedurften in ihrer Welt, zur Belebung der religiösen
und moralischen Anlagen in den Menschen ihrer Zeit, Ge-
schichten und Thatsachen, deren innersten Kern aber Ideen
bildeten: uns sind die Thatsachen veraltet und zweifelhaft
geworden, und nur noch um der zum Grunde liegenden
Ideen willen die Erzählungen davon ein Gegenstand der
Verehrung 8).

Diese Ansicht traf zunächst von Seiten des kirchlichen
Bewuſstseins der Vorwurf, daſs sie statt des Reichthums

8) Ideen über Mythologie u. s. w. in Henke's neuem Magazin,
6, S. 454 ff. vgl. Henke's Museum, 3, S. 455.
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[727/0746] Schluſsabhandlung. §. 145. in dem Tiefsten und Gottverwandten des menschlichen Ge- müthes hat. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, läſst sich an die Geschichte Christi Alles anknüpfen, was für das religiöse Vertrauen wichtig, für den reinen Sinn bele- bend, für das zarte Gefühl anziehend ist. Es ist jene Geschichte eine heilig schöne Dichtung des allgemeinen Menschengeschlechts, in der sich alle Bedürfnisse unseres religiösen Triebs vereinigen, und dieſs ist eben die höchste Ehre und der stärkste Beweis für die allgemeine Gültig- keit des Christenthums. Die Geschichte des Evangeliums ist im Grunde die Geschichte der idealisch gedachten all- gemeinen Menschennatur, und zeigt uns in dem Leben des Einzigen, was der Mensch sein soll, und mit ihm verbun- den durch Befolgung seiner Lehre und seines Beispiels wirklich werden kann. Dabei wird nicht geleugnet, daſs dem Paulus, Johannes, Matthäus und Lukas das That- sache und gewisse Geschichte war, was uns jezt nur noch als heilige Dichtung erscheinen kann. Aber es war ihnen auf ihrem Standpunkt aus eben dem inneren Grunde heili- ge Thatsache und Geschichte, aus welchem es uns jezt auf unserem Standpunkt heilige Mythe und Dichtung ist. Nur die Ansichten sind verschieden: die menschliche Natur, und in ihr der religiöse Trieb, bleibt immer derselbe. Jene Männer bedurften in ihrer Welt, zur Belebung der religiösen und moralischen Anlagen in den Menschen ihrer Zeit, Ge- schichten und Thatsachen, deren innersten Kern aber Ideen bildeten: uns sind die Thatsachen veraltet und zweifelhaft geworden, und nur noch um der zum Grunde liegenden Ideen willen die Erzählungen davon ein Gegenstand der Verehrung 8). Diese Ansicht traf zunächst von Seiten des kirchlichen Bewuſstseins der Vorwurf, daſs sie statt des Reichthums 8) Ideen über Mythologie u. s. w. in Henke's neuem Magazin, 6, S. 454 ff. vgl. Henke's Museum, 3, S. 455.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 727. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/746>, abgerufen am 22.11.2024.