Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.Schlussabhandlung. §. 147. Die sinnliche Geschichte des Individuums, sagt Hegel, istnur der Ausgangspunkt für den Geist. Indem der Glaube von der sinnlichen Weise anfängt, hat er eine zeitliche Geschichte vor sich; was er für wahr hält, ist äussere, gewöhnliche Begebenheit, und die Beglaubigung ist die historische, juristische Weise, ein Faktum durch sinnliche Gewissheit und moralische Zuverlässigkeit der Zeugen zu beglaubigen. Indem nun aber der Geist von diesem Äus- seren Veranlassung nimmt, die Idee der mit Gott einigen Menschheit sich zum Bewusstsein zu bringen, und nun in jener Geschichte die Bewegung dieser Idee anschaut: hat sich der Gegenstand vollkommen verwandelt, ist aus ei- nem sinnlich empirischen zu einem geistigen und göttlichen geworden, der nicht mehr in der Geschichte, sondern in der Philosophie seine Beglaubigung hat. Durch dieses Hinausgehen über die sinnliche Geschichte zur absoluten, wird jene als das Wesentliche aufgehoben, zum Unterge- ordneten herabgesezt, über welchem die geistige Wahrheit auf eigenem Boden steht, zum fernen Traumbild, das nur noch in der Vergangenheit, und nicht wie die Idee in dem sich schlechthin gegenwärtigen Geiste vorhanden ist 5). Schon Luther hat die leiblichen Wunder gegen die geistli- chen, als die rechten hohen Mirakel, herabgesezt: und wir sollten uns für einige Krankenheilungen in Galiläa auf hö- here Weise interessiren können, als für die Wunder der Weltgeschichte, für die in's Unglaubliche steigende Ge- walt des Menschen über die Natur, für die unwider- stehliche Macht der Idee, welcher noch so grosse Massen des Ideenlosen keinen Widerstand entgegenzusetzen ver- mögen? uns sollten vereinzelte, ihrer Materie nach unbe- deutende Begebnisse mehr sein, als das universellste Ge- schehen, einzig desswegen, weil wir bei diesem die Na- türlichkeit des Hergangs, wenn nicht begreifen, doch vor- 5) Rel. Phil. 2, S. 263 ff. Das Leben Jesu II. Band. 47
Schluſsabhandlung. §. 147. Die sinnliche Geschichte des Individuums, sagt Hegel, istnur der Ausgangspunkt für den Geist. Indem der Glaube von der sinnlichen Weise anfängt, hat er eine zeitliche Geschichte vor sich; was er für wahr hält, ist äussere, gewöhnliche Begebenheit, und die Beglaubigung ist die historische, juristische Weise, ein Faktum durch sinnliche Gewiſsheit und moralische Zuverläſsigkeit der Zeugen zu beglaubigen. Indem nun aber der Geist von diesem Äus- seren Veranlassung nimmt, die Idee der mit Gott einigen Menschheit sich zum Bewuſstsein zu bringen, und nun in jener Geschichte die Bewegung dieser Idee anschaut: hat sich der Gegenstand vollkommen verwandelt, ist aus ei- nem sinnlich empirischen zu einem geistigen und göttlichen geworden, der nicht mehr in der Geschichte, sondern in der Philosophie seine Beglaubigung hat. Durch dieses Hinausgehen über die sinnliche Geschichte zur absoluten, wird jene als das Wesentliche aufgehoben, zum Unterge- ordneten herabgesezt, über welchem die geistige Wahrheit auf eigenem Boden steht, zum fernen Traumbild, das nur noch in der Vergangenheit, und nicht wie die Idee in dem sich schlechthin gegenwärtigen Geiste vorhanden ist 5). Schon Luther hat die leiblichen Wunder gegen die geistli- chen, als die rechten hohen Mirakel, herabgesezt: und wir sollten uns für einige Krankenheilungen in Galiläa auf hö- here Weise interessiren können, als für die Wunder der Weltgeschichte, für die in's Unglaubliche steigende Ge- walt des Menschen über die Natur, für die unwider- stehliche Macht der Idee, welcher noch so groſse Massen des Ideenlosen keinen Widerstand entgegenzusetzen ver- mögen? uns sollten vereinzelte, ihrer Materie nach unbe- deutende Begebnisse mehr sein, als das universellste Ge- schehen, einzig deſswegen, weil wir bei diesem die Na- türlichkeit des Hergangs, wenn nicht begreifen, doch vor- 5) Rel. Phil. 2, S. 263 ff. Das Leben Jesu II. Band. 47
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0756" n="737"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Schluſsabhandlung</hi>. §. 147.</fw><lb/> Die sinnliche Geschichte des Individuums, sagt <hi rendition="#k">Hegel</hi>, ist<lb/> nur der Ausgangspunkt für den Geist. Indem der Glaube<lb/> von der sinnlichen Weise anfängt, hat er eine zeitliche<lb/> Geschichte vor sich; was er für wahr hält, ist äussere,<lb/> gewöhnliche Begebenheit, und die Beglaubigung ist die<lb/> historische, juristische Weise, ein Faktum durch sinnliche<lb/> Gewiſsheit und moralische Zuverläſsigkeit der Zeugen zu<lb/> beglaubigen. Indem nun aber der Geist von diesem Äus-<lb/> seren Veranlassung nimmt, die Idee der mit Gott einigen<lb/> Menschheit sich zum Bewuſstsein zu bringen, und nun in<lb/> jener Geschichte die Bewegung dieser Idee anschaut: hat<lb/> sich der Gegenstand vollkommen verwandelt, ist aus ei-<lb/> nem sinnlich empirischen zu einem geistigen und göttlichen<lb/> geworden, der nicht mehr in der Geschichte, sondern in<lb/> der Philosophie seine Beglaubigung hat. Durch dieses<lb/> Hinausgehen über die sinnliche Geschichte zur absoluten,<lb/> wird jene als das Wesentliche aufgehoben, zum Unterge-<lb/> ordneten herabgesezt, über welchem die geistige Wahrheit<lb/> auf eigenem Boden steht, zum fernen Traumbild, das nur<lb/> noch in der Vergangenheit, und nicht wie die Idee in dem<lb/> sich schlechthin gegenwärtigen Geiste vorhanden ist <note place="foot" n="5)">Rel. Phil. 2, S. 263 ff.</note>.<lb/> Schon <hi rendition="#k">Luther</hi> hat die leiblichen Wunder gegen die geistli-<lb/> chen, als die rechten hohen Mirakel, herabgesezt: und wir<lb/> sollten uns für einige Krankenheilungen in Galiläa auf hö-<lb/> here Weise interessiren können, als für die Wunder der<lb/> Weltgeschichte, für die in's Unglaubliche steigende Ge-<lb/> walt des Menschen über die Natur, für die unwider-<lb/> stehliche Macht der Idee, welcher noch so groſse Massen<lb/> des Ideenlosen keinen Widerstand entgegenzusetzen ver-<lb/> mögen? uns sollten vereinzelte, ihrer Materie nach unbe-<lb/> deutende Begebnisse mehr sein, als das universellste Ge-<lb/> schehen, einzig deſswegen, weil wir bei diesem die Na-<lb/> türlichkeit des Hergangs, wenn nicht begreifen, doch vor-<lb/> <fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#i">Das Leben Jesu II. Band.</hi> 47</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [737/0756]
Schluſsabhandlung. §. 147.
Die sinnliche Geschichte des Individuums, sagt Hegel, ist
nur der Ausgangspunkt für den Geist. Indem der Glaube
von der sinnlichen Weise anfängt, hat er eine zeitliche
Geschichte vor sich; was er für wahr hält, ist äussere,
gewöhnliche Begebenheit, und die Beglaubigung ist die
historische, juristische Weise, ein Faktum durch sinnliche
Gewiſsheit und moralische Zuverläſsigkeit der Zeugen zu
beglaubigen. Indem nun aber der Geist von diesem Äus-
seren Veranlassung nimmt, die Idee der mit Gott einigen
Menschheit sich zum Bewuſstsein zu bringen, und nun in
jener Geschichte die Bewegung dieser Idee anschaut: hat
sich der Gegenstand vollkommen verwandelt, ist aus ei-
nem sinnlich empirischen zu einem geistigen und göttlichen
geworden, der nicht mehr in der Geschichte, sondern in
der Philosophie seine Beglaubigung hat. Durch dieses
Hinausgehen über die sinnliche Geschichte zur absoluten,
wird jene als das Wesentliche aufgehoben, zum Unterge-
ordneten herabgesezt, über welchem die geistige Wahrheit
auf eigenem Boden steht, zum fernen Traumbild, das nur
noch in der Vergangenheit, und nicht wie die Idee in dem
sich schlechthin gegenwärtigen Geiste vorhanden ist 5).
Schon Luther hat die leiblichen Wunder gegen die geistli-
chen, als die rechten hohen Mirakel, herabgesezt: und wir
sollten uns für einige Krankenheilungen in Galiläa auf hö-
here Weise interessiren können, als für die Wunder der
Weltgeschichte, für die in's Unglaubliche steigende Ge-
walt des Menschen über die Natur, für die unwider-
stehliche Macht der Idee, welcher noch so groſse Massen
des Ideenlosen keinen Widerstand entgegenzusetzen ver-
mögen? uns sollten vereinzelte, ihrer Materie nach unbe-
deutende Begebnisse mehr sein, als das universellste Ge-
schehen, einzig deſswegen, weil wir bei diesem die Na-
türlichkeit des Hergangs, wenn nicht begreifen, doch vor-
5) Rel. Phil. 2, S. 263 ff.
Das Leben Jesu II. Band. 47
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |