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Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775.

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Sechzehnte Betrachtung.
denke. Gott bewahre mich vor dem Schicksal, daß ich
ohne Gefühl bleibe, wenn ich an die Quaalen eines
erwachten Gewissens gedenke! Er bewahre mich, daß
ich nie mich freuen möge, wenn mir meine Sünde ge-
glückt ist! Wer über seine Sünden nicht weinen kann,
der ist auch nicht fähig, die Freude der Begnadigung
zu empfinden. Wer bey dem Andenken an seine Sün-
den unempfindlich bleibt, der kann auch nicht die Gna-
de empfinden, welche die Vergebung der Sünden ver-
schaft. O wie freue ich mich, daß ich kein thränen-
loser Sünder bin! Ich kann nicht ohne Wehmuth
an meine Missethaten und an die Leiden denken, die
mein Jesus um derselben willen getragen hat. Allein
auch dies muß ich bekennen, bald, nur gar zu bald
sind meine Thränen vertrocknet, und mit denselben die
aufrichtigste Reue und der beste Vorsatz aus meinem
Herzen vertilgt.

Von ganz andrer Art war der Eindruck, welchen
die Thränen der Busse auf das Herz Petri machten.
Sie vertrockneten nie ganz. Sein Leben war eine be-
ständige Bereuung, oder vielmehr Ersetzung seines Fehl-
tritts. War seine Liebe gegen Jesum zur Zeit seiner
Verläugnung so schwach: wie stark, wie feurig, wie
entflammt war sie, als ihm Jesus die Frage vorlegte:
Simon, hast du mich lieb? Ja, Herr, sagte er, du
weissest alle Dinge, du weissest, daß ich dich lieb
habe.
Verläugnete er dort Jesum im Angesicht sei-
ner Feinde: wie muthig bekannte er ihn alsdann, nicht
vor einer kleinen Schaar, sondern vor vielen Tausenden
seiner Wiedersacher! Hatte er die Kirche durch seine
Untreue geärgert: mit welchem Eifer suchte er nachge-
hends diesen Schaden zu ersetzen, und die Glieder Je-
su durch seine Treue zu erbauen. Scheute er dort die

Rich-

Sechzehnte Betrachtung.
denke. Gott bewahre mich vor dem Schickſal, daß ich
ohne Gefühl bleibe, wenn ich an die Quaalen eines
erwachten Gewiſſens gedenke! Er bewahre mich, daß
ich nie mich freuen möge, wenn mir meine Sünde ge-
glückt iſt! Wer über ſeine Sünden nicht weinen kann,
der iſt auch nicht fähig, die Freude der Begnadigung
zu empfinden. Wer bey dem Andenken an ſeine Sün-
den unempfindlich bleibt, der kann auch nicht die Gna-
de empfinden, welche die Vergebung der Sünden ver-
ſchaft. O wie freue ich mich, daß ich kein thränen-
loſer Sünder bin! Ich kann nicht ohne Wehmuth
an meine Miſſethaten und an die Leiden denken, die
mein Jeſus um derſelben willen getragen hat. Allein
auch dies muß ich bekennen, bald, nur gar zu bald
ſind meine Thränen vertrocknet, und mit denſelben die
aufrichtigſte Reue und der beſte Vorſatz aus meinem
Herzen vertilgt.

Von ganz andrer Art war der Eindruck, welchen
die Thränen der Buſſe auf das Herz Petri machten.
Sie vertrockneten nie ganz. Sein Leben war eine be-
ſtändige Bereuung, oder vielmehr Erſetzung ſeines Fehl-
tritts. War ſeine Liebe gegen Jeſum zur Zeit ſeiner
Verläugnung ſo ſchwach: wie ſtark, wie feurig, wie
entflammt war ſie, als ihm Jeſus die Frage vorlegte:
Simon, haſt du mich lieb? Ja, Herr, ſagte er, du
weiſſeſt alle Dinge, du weiſſeſt, daß ich dich lieb
habe.
Verläugnete er dort Jeſum im Angeſicht ſei-
ner Feinde: wie muthig bekannte er ihn alsdann, nicht
vor einer kleinen Schaar, ſondern vor vielen Tauſenden
ſeiner Wiederſacher! Hatte er die Kirche durch ſeine
Untreue geärgert: mit welchem Eifer ſuchte er nachge-
hends dieſen Schaden zu erſetzen, und die Glieder Je-
ſu durch ſeine Treue zu erbauen. Scheute er dort die

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[78/0100] Sechzehnte Betrachtung. denke. Gott bewahre mich vor dem Schickſal, daß ich ohne Gefühl bleibe, wenn ich an die Quaalen eines erwachten Gewiſſens gedenke! Er bewahre mich, daß ich nie mich freuen möge, wenn mir meine Sünde ge- glückt iſt! Wer über ſeine Sünden nicht weinen kann, der iſt auch nicht fähig, die Freude der Begnadigung zu empfinden. Wer bey dem Andenken an ſeine Sün- den unempfindlich bleibt, der kann auch nicht die Gna- de empfinden, welche die Vergebung der Sünden ver- ſchaft. O wie freue ich mich, daß ich kein thränen- loſer Sünder bin! Ich kann nicht ohne Wehmuth an meine Miſſethaten und an die Leiden denken, die mein Jeſus um derſelben willen getragen hat. Allein auch dies muß ich bekennen, bald, nur gar zu bald ſind meine Thränen vertrocknet, und mit denſelben die aufrichtigſte Reue und der beſte Vorſatz aus meinem Herzen vertilgt. Von ganz andrer Art war der Eindruck, welchen die Thränen der Buſſe auf das Herz Petri machten. Sie vertrockneten nie ganz. Sein Leben war eine be- ſtändige Bereuung, oder vielmehr Erſetzung ſeines Fehl- tritts. War ſeine Liebe gegen Jeſum zur Zeit ſeiner Verläugnung ſo ſchwach: wie ſtark, wie feurig, wie entflammt war ſie, als ihm Jeſus die Frage vorlegte: Simon, haſt du mich lieb? Ja, Herr, ſagte er, du weiſſeſt alle Dinge, du weiſſeſt, daß ich dich lieb habe. Verläugnete er dort Jeſum im Angeſicht ſei- ner Feinde: wie muthig bekannte er ihn alsdann, nicht vor einer kleinen Schaar, ſondern vor vielen Tauſenden ſeiner Wiederſacher! Hatte er die Kirche durch ſeine Untreue geärgert: mit welchem Eifer ſuchte er nachge- hends dieſen Schaden zu erſetzen, und die Glieder Je- ſu durch ſeine Treue zu erbauen. Scheute er dort die Rich-

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Zitationshilfe: Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781/100>, abgerufen am 21.11.2024.