Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775.

Bild:
<< vorherige Seite

Unseliges Ende des Verräthers Jesu.
len die Verdammten umgeben. Um sich diese martern-
den Vorstellungen zu benehmen und sich die Zeit seiner
Angst zu verkürzen, was thut der Verblendete? Er un-
ternimmt eine That, die seine Vorstellungen in Empfin-
dungen verwandelt und die Dauer seiner Quaal ins Un-
endliche vermehret. Er geht hin und erhenkt sich selbst. --
So schrecklich kann nur der Tod eines Menschen seyn,
dessen Leben so abscheulich war! -- Nein, es ist nicht
dieser hohe Grad von Bosheit und Verhärtung nöthig,
wenn man, wie Judas in der Verzweiflung sterben soll.
Jede Sünde, so gering sie geschätzt wird, kann uns dem
erschrecklichen Abgrunde nähern, in welchem der Verrä-
ther zu Grunde gegangen ist. Eine Sünde, die uns
ein unmerklich Sandkorn zu seyn schien, so lange das
Gewissen im Schlummer lag, kann uns einst, wenn es
erwacht ist, als ein Gebürge drücken und unter seine
Last begraben. Jetzt ist es vielleicht in unsern Augen
eine nichtsbedeutende Sache, wenn wir die Unschuld
mißhandeln, oder durch Ungerechtigkeit Wittwen und
Waysen hintergehen, oder die Pflichten gegen unsre El-
tern und Vorgesetzte hintansetzen; allein werden wir auch
so urtheilen, wenn der Tod in der Nähe ist? -- Er mag
in der Nähe seyn: mein Gewissen mag mir meine Sün-
den nach ihrer Grösse und Mannichfaltigkeit vorstellen:
ich werde doch nicht, wie Judas, zu verzweifeln Ur-
sache haben. Meine aufrichtige Reue wird Gott und
mein Gewissen aussöhnen. --

Aber, Sünder, der du dich durch diesen Trost auf-
zurichten suchst, vielleicht erinnerst du dich nicht, wie
reuevoll, wie gebeugt das Herz des verzweifelnden Judä
war: wie er alle Mittel ergriff, von welchen er sich eine
Erleichterung für sein beängstigtes Herz versprach? Er
war so ruhig nicht, wie viele Sünder nach der Ausübung

ih-

Unſeliges Ende des Verräthers Jeſu.
len die Verdammten umgeben. Um ſich dieſe martern-
den Vorſtellungen zu benehmen und ſich die Zeit ſeiner
Angſt zu verkürzen, was thut der Verblendete? Er un-
ternimmt eine That, die ſeine Vorſtellungen in Empfin-
dungen verwandelt und die Dauer ſeiner Quaal ins Un-
endliche vermehret. Er geht hin und erhenkt ſich ſelbſt. —
So ſchrecklich kann nur der Tod eines Menſchen ſeyn,
deſſen Leben ſo abſcheulich war! — Nein, es iſt nicht
dieſer hohe Grad von Bosheit und Verhärtung nöthig,
wenn man, wie Judas in der Verzweiflung ſterben ſoll.
Jede Sünde, ſo gering ſie geſchätzt wird, kann uns dem
erſchrecklichen Abgrunde nähern, in welchem der Verrä-
ther zu Grunde gegangen iſt. Eine Sünde, die uns
ein unmerklich Sandkorn zu ſeyn ſchien, ſo lange das
Gewiſſen im Schlummer lag, kann uns einſt, wenn es
erwacht iſt, als ein Gebürge drücken und unter ſeine
Laſt begraben. Jetzt iſt es vielleicht in unſern Augen
eine nichtsbedeutende Sache, wenn wir die Unſchuld
mißhandeln, oder durch Ungerechtigkeit Wittwen und
Wayſen hintergehen, oder die Pflichten gegen unſre El-
tern und Vorgeſetzte hintanſetzen; allein werden wir auch
ſo urtheilen, wenn der Tod in der Nähe iſt? — Er mag
in der Nähe ſeyn: mein Gewiſſen mag mir meine Sün-
den nach ihrer Gröſſe und Mannichfaltigkeit vorſtellen:
ich werde doch nicht, wie Judas, zu verzweifeln Ur-
ſache haben. Meine aufrichtige Reue wird Gott und
mein Gewiſſen ausſöhnen. —

Aber, Sünder, der du dich durch dieſen Troſt auf-
zurichten ſuchſt, vielleicht erinnerſt du dich nicht, wie
reuevoll, wie gebeugt das Herz des verzweifelnden Judä
war: wie er alle Mittel ergriff, von welchen er ſich eine
Erleichterung für ſein beängſtigtes Herz verſprach? Er
war ſo ruhig nicht, wie viele Sünder nach der Ausübung

ih-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0115" n="93"/><fw place="top" type="header">Un&#x017F;eliges Ende des Verräthers Je&#x017F;u.</fw><lb/>
len die Verdammten umgeben. Um &#x017F;ich die&#x017F;e martern-<lb/>
den Vor&#x017F;tellungen zu benehmen und &#x017F;ich die Zeit &#x017F;einer<lb/>
Ang&#x017F;t zu verkürzen, was thut der Verblendete? Er un-<lb/>
ternimmt eine That, die &#x017F;eine Vor&#x017F;tellungen in Empfin-<lb/>
dungen verwandelt und die Dauer &#x017F;einer Quaal ins Un-<lb/>
endliche vermehret. Er geht hin und erhenkt &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t. &#x2014;<lb/>
So &#x017F;chrecklich kann nur der Tod eines Men&#x017F;chen &#x017F;eyn,<lb/>
de&#x017F;&#x017F;en Leben &#x017F;o ab&#x017F;cheulich war! &#x2014; Nein, es i&#x017F;t nicht<lb/>
die&#x017F;er hohe Grad von Bosheit und Verhärtung nöthig,<lb/>
wenn man, wie Judas in der Verzweiflung &#x017F;terben &#x017F;oll.<lb/>
Jede Sünde, &#x017F;o gering &#x017F;ie ge&#x017F;chätzt wird, kann uns dem<lb/>
er&#x017F;chrecklichen Abgrunde nähern, in welchem der Verrä-<lb/>
ther zu Grunde gegangen i&#x017F;t. Eine Sünde, die uns<lb/>
ein unmerklich Sandkorn zu &#x017F;eyn &#x017F;chien, &#x017F;o lange das<lb/>
Gewi&#x017F;&#x017F;en im Schlummer lag, kann uns ein&#x017F;t, wenn es<lb/>
erwacht i&#x017F;t, als ein Gebürge drücken und unter &#x017F;eine<lb/>
La&#x017F;t begraben. Jetzt i&#x017F;t es vielleicht in un&#x017F;ern Augen<lb/>
eine nichtsbedeutende Sache, wenn wir die Un&#x017F;chuld<lb/>
mißhandeln, oder durch Ungerechtigkeit Wittwen und<lb/>
Way&#x017F;en hintergehen, oder die Pflichten gegen un&#x017F;re El-<lb/>
tern und Vorge&#x017F;etzte hintan&#x017F;etzen; allein werden wir auch<lb/>
&#x017F;o urtheilen, wenn der Tod in der Nähe i&#x017F;t? &#x2014; Er mag<lb/>
in der Nähe &#x017F;eyn: mein Gewi&#x017F;&#x017F;en mag mir meine Sün-<lb/>
den nach ihrer Grö&#x017F;&#x017F;e und Mannichfaltigkeit vor&#x017F;tellen:<lb/>
ich werde doch nicht, wie Judas, zu verzweifeln Ur-<lb/>
&#x017F;ache haben. Meine aufrichtige Reue wird Gott und<lb/>
mein Gewi&#x017F;&#x017F;en aus&#x017F;öhnen. &#x2014;</p><lb/>
          <p>Aber, Sünder, der du dich durch die&#x017F;en Tro&#x017F;t auf-<lb/>
zurichten &#x017F;uch&#x017F;t, vielleicht erinner&#x017F;t du dich nicht, wie<lb/>
reuevoll, wie gebeugt das Herz des verzweifelnden Judä<lb/>
war: wie er alle Mittel ergriff, von welchen er &#x017F;ich eine<lb/>
Erleichterung für &#x017F;ein beäng&#x017F;tigtes Herz ver&#x017F;prach? Er<lb/>
war &#x017F;o ruhig nicht, wie viele Sünder nach der Ausübung<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ih-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[93/0115] Unſeliges Ende des Verräthers Jeſu. len die Verdammten umgeben. Um ſich dieſe martern- den Vorſtellungen zu benehmen und ſich die Zeit ſeiner Angſt zu verkürzen, was thut der Verblendete? Er un- ternimmt eine That, die ſeine Vorſtellungen in Empfin- dungen verwandelt und die Dauer ſeiner Quaal ins Un- endliche vermehret. Er geht hin und erhenkt ſich ſelbſt. — So ſchrecklich kann nur der Tod eines Menſchen ſeyn, deſſen Leben ſo abſcheulich war! — Nein, es iſt nicht dieſer hohe Grad von Bosheit und Verhärtung nöthig, wenn man, wie Judas in der Verzweiflung ſterben ſoll. Jede Sünde, ſo gering ſie geſchätzt wird, kann uns dem erſchrecklichen Abgrunde nähern, in welchem der Verrä- ther zu Grunde gegangen iſt. Eine Sünde, die uns ein unmerklich Sandkorn zu ſeyn ſchien, ſo lange das Gewiſſen im Schlummer lag, kann uns einſt, wenn es erwacht iſt, als ein Gebürge drücken und unter ſeine Laſt begraben. Jetzt iſt es vielleicht in unſern Augen eine nichtsbedeutende Sache, wenn wir die Unſchuld mißhandeln, oder durch Ungerechtigkeit Wittwen und Wayſen hintergehen, oder die Pflichten gegen unſre El- tern und Vorgeſetzte hintanſetzen; allein werden wir auch ſo urtheilen, wenn der Tod in der Nähe iſt? — Er mag in der Nähe ſeyn: mein Gewiſſen mag mir meine Sün- den nach ihrer Gröſſe und Mannichfaltigkeit vorſtellen: ich werde doch nicht, wie Judas, zu verzweifeln Ur- ſache haben. Meine aufrichtige Reue wird Gott und mein Gewiſſen ausſöhnen. — Aber, Sünder, der du dich durch dieſen Troſt auf- zurichten ſuchſt, vielleicht erinnerſt du dich nicht, wie reuevoll, wie gebeugt das Herz des verzweifelnden Judä war: wie er alle Mittel ergriff, von welchen er ſich eine Erleichterung für ſein beängſtigtes Herz verſprach? Er war ſo ruhig nicht, wie viele Sünder nach der Ausübung ih-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW): Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781/115
Zitationshilfe: Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781/115>, abgerufen am 26.06.2024.