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Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775.

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Zwanzigste Betrachtung.
ler versprach. Er überdachte nicht die Angst seines Ge-
wissens, welche nach der Vollendung seiner Frevelthat sein
Herz einnehmen könnte: und eben so wenig sah er die Grösse
seiner Versündigung ein, da er um eines nichtswürdigen
Gewinns willen der Verräther seines Meisters, und der
Mörder seines Wohlthäters werden, und alle Empfin-
dungen der Dankbarkeit, Treue und Redlichkeit aus seiner
Seele vertilgen mußte! So denkt ein Betrunkener nicht
an die Gefahren, denen er sich in seinem Taumel mit je-
dem Schritt, den er thut, aussetzet: er zittert nicht vor
dem Abgrund, dem er entgegen geht: er achtet nicht auf
die Warnungen, welche man ihm zu seiner Sicherheit er-
theilt. Allein welche Angst muß ihn überfallen, wenn er,
nachdem er zu sich selbst gekommen, die Grösse der Ge-
fahr bemerkt, in welche er sich gestürzt hat: wenn er
die Schande sieht, die auf ihn gefallen und das Elend er-
wägt, in welchem er hülflos gelassen ist. In diesem Zu-
stande befand sich Judas, als er aus dem Taumel seiner
Leidenschaft erwachte. Nunmehr stellt sich sein Geist
die ganze Abscheulichkeit seiner Frevelthat dar. Jeder Ge-
danke, den er auf sich richtet, erfüllt ihn mit Schaam,
Angst und Verwirrung. Nun erkennt er den nieder-
trächtigen Bewegungsgrund, der ihn zur Verrätherey
verführte, die unwürdigen dreyßig Silberlinge, für welche
er seinen Meister verkaufte. Und nun, da er Jesum ver-
urtheilt sieht, denkt er an seine Verurtheilung, welche er
an dem feyerlichen Gerichtstage im Angesichte der Engel
und Menschen zu erwarten haben werde. Es dünkt ihm
in Verwirrung seiner Gedanken, als sähe er schon den
von ihm verrathenen Jesum in seiner richterlichen Herrlich-
keit: als hörte er schon die Donnerstimme, die ihn in das
ewige Feuer verweißt: als befände er sich schon mit den
Genossen seiner Frevelthat an dem Ort, wo alle Quaa-

len

Zwanzigſte Betrachtung.
ler verſprach. Er überdachte nicht die Angſt ſeines Ge-
wiſſens, welche nach der Vollendung ſeiner Frevelthat ſein
Herz einnehmen könnte: und eben ſo wenig ſah er die Gröſſe
ſeiner Verſündigung ein, da er um eines nichtswürdigen
Gewinns willen der Verräther ſeines Meiſters, und der
Mörder ſeines Wohlthäters werden, und alle Empfin-
dungen der Dankbarkeit, Treue und Redlichkeit aus ſeiner
Seele vertilgen mußte! So denkt ein Betrunkener nicht
an die Gefahren, denen er ſich in ſeinem Taumel mit je-
dem Schritt, den er thut, ausſetzet: er zittert nicht vor
dem Abgrund, dem er entgegen geht: er achtet nicht auf
die Warnungen, welche man ihm zu ſeiner Sicherheit er-
theilt. Allein welche Angſt muß ihn überfallen, wenn er,
nachdem er zu ſich ſelbſt gekommen, die Gröſſe der Ge-
fahr bemerkt, in welche er ſich geſtürzt hat: wenn er
die Schande ſieht, die auf ihn gefallen und das Elend er-
wägt, in welchem er hülflos gelaſſen iſt. In dieſem Zu-
ſtande befand ſich Judas, als er aus dem Taumel ſeiner
Leidenſchaft erwachte. Nunmehr ſtellt ſich ſein Geiſt
die ganze Abſcheulichkeit ſeiner Frevelthat dar. Jeder Ge-
danke, den er auf ſich richtet, erfüllt ihn mit Schaam,
Angſt und Verwirrung. Nun erkennt er den nieder-
trächtigen Bewegungsgrund, der ihn zur Verrätherey
verführte, die unwürdigen dreyßig Silberlinge, für welche
er ſeinen Meiſter verkaufte. Und nun, da er Jeſum ver-
urtheilt ſieht, denkt er an ſeine Verurtheilung, welche er
an dem feyerlichen Gerichtstage im Angeſichte der Engel
und Menſchen zu erwarten haben werde. Es dünkt ihm
in Verwirrung ſeiner Gedanken, als ſähe er ſchon den
von ihm verrathenen Jeſum in ſeiner richterlichen Herrlich-
keit: als hörte er ſchon die Donnerſtimme, die ihn in das
ewige Feuer verweißt: als befände er ſich ſchon mit den
Genoſſen ſeiner Frevelthat an dem Ort, wo alle Quaa-

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[92/0114] Zwanzigſte Betrachtung. ler verſprach. Er überdachte nicht die Angſt ſeines Ge- wiſſens, welche nach der Vollendung ſeiner Frevelthat ſein Herz einnehmen könnte: und eben ſo wenig ſah er die Gröſſe ſeiner Verſündigung ein, da er um eines nichtswürdigen Gewinns willen der Verräther ſeines Meiſters, und der Mörder ſeines Wohlthäters werden, und alle Empfin- dungen der Dankbarkeit, Treue und Redlichkeit aus ſeiner Seele vertilgen mußte! So denkt ein Betrunkener nicht an die Gefahren, denen er ſich in ſeinem Taumel mit je- dem Schritt, den er thut, ausſetzet: er zittert nicht vor dem Abgrund, dem er entgegen geht: er achtet nicht auf die Warnungen, welche man ihm zu ſeiner Sicherheit er- theilt. Allein welche Angſt muß ihn überfallen, wenn er, nachdem er zu ſich ſelbſt gekommen, die Gröſſe der Ge- fahr bemerkt, in welche er ſich geſtürzt hat: wenn er die Schande ſieht, die auf ihn gefallen und das Elend er- wägt, in welchem er hülflos gelaſſen iſt. In dieſem Zu- ſtande befand ſich Judas, als er aus dem Taumel ſeiner Leidenſchaft erwachte. Nunmehr ſtellt ſich ſein Geiſt die ganze Abſcheulichkeit ſeiner Frevelthat dar. Jeder Ge- danke, den er auf ſich richtet, erfüllt ihn mit Schaam, Angſt und Verwirrung. Nun erkennt er den nieder- trächtigen Bewegungsgrund, der ihn zur Verrätherey verführte, die unwürdigen dreyßig Silberlinge, für welche er ſeinen Meiſter verkaufte. Und nun, da er Jeſum ver- urtheilt ſieht, denkt er an ſeine Verurtheilung, welche er an dem feyerlichen Gerichtstage im Angeſichte der Engel und Menſchen zu erwarten haben werde. Es dünkt ihm in Verwirrung ſeiner Gedanken, als ſähe er ſchon den von ihm verrathenen Jeſum in ſeiner richterlichen Herrlich- keit: als hörte er ſchon die Donnerſtimme, die ihn in das ewige Feuer verweißt: als befände er ſich ſchon mit den Genoſſen ſeiner Frevelthat an dem Ort, wo alle Quaa- len

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Zitationshilfe: Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781/114>, abgerufen am 26.06.2024.