Zwanzigste Betrachtung. Unseliges Ende des Verräthers Jesu.
Matth. 27, 3. u. f. Da Judas sahe, daß Jesus verdammet ward zum Tode, ge- reuete es ihn, und brachte herwieder die dreyßig Silberlinge den Hohenpriestern und den Aeltesten, und sprach: ich habe übel gethan, daß ich unschuldig Blut verrathen habe. Sie sprachen: Was gehet uns das an? Da siehe du zu. Und er warf die Silberlinge in den Tempel, hub sich davon, gieng hin und erhenkte sich selbst.
Hier steht nun der unglückliche, betrogene Judas am Rande des Abgrundes, dem er im Taumel seiner Lüste, ohne daß er es selbst bemerkte, nahe gekom- men war. Er steht da, ringt die Hände, sieht die uner- gründliche Tiefe desselben, geht einige Schritte zurück, nä- hert sich aufs neue demselben und stürzt sich voll Verzwei- flung hinein. Voll Verzweiflung! -- Ach, wer kann, wer kann dieses fürchterliche Wort verstehen, wer kann alle Schrecken, die darinn liegen, beschreiben, ohne selbst die Martern der Verzweiflung empfunden zu haben? Und wer kann diese Martern empfinden, ohne, wie dieser ver- blendete Sünder, unter dem Gefühl derselben zu Grunde zu gehen?
In solche erschreckliche Noth stürzet die Sünde. Dieses ist die erste Lehre, welche mir das Exempel dieses Verzweifelnden giebt. Als Judas mit dem ersten Gedan- ken seiner unmenschlichen That beschäftiget war, so ver- hinderte ihn sein verblendetes Herz, die schreckbaren Fol- gen seiner Sünde einzusehen. Er sahe nicht weiter, als auf den elenden Genuß, welchen ihm der Besitz einiger Tha-
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Zwanzigſte Betrachtung. Unſeliges Ende des Verräthers Jeſu.
Matth. 27, 3. u. f. Da Judas ſahe, daß Jeſus verdammet ward zum Tode, ge- reuete es ihn, und brachte herwieder die dreyßig Silberlinge den Hohenprieſtern und den Aelteſten, und ſprach: ich habe übel gethan, daß ich unſchuldig Blut verrathen habe. Sie ſprachen: Was gehet uns das an? Da ſiehe du zu. Und er warf die Silberlinge in den Tempel, hub ſich davon, gieng hin und erhenkte ſich ſelbſt.
Hier ſteht nun der unglückliche, betrogene Judas am Rande des Abgrundes, dem er im Taumel ſeiner Lüſte, ohne daß er es ſelbſt bemerkte, nahe gekom- men war. Er ſteht da, ringt die Hände, ſieht die uner- gründliche Tiefe deſſelben, geht einige Schritte zurück, nä- hert ſich aufs neue demſelben und ſtürzt ſich voll Verzwei- flung hinein. Voll Verzweiflung! — Ach, wer kann, wer kann dieſes fürchterliche Wort verſtehen, wer kann alle Schrecken, die darinn liegen, beſchreiben, ohne ſelbſt die Martern der Verzweiflung empfunden zu haben? Und wer kann dieſe Martern empfinden, ohne, wie dieſer ver- blendete Sünder, unter dem Gefühl derſelben zu Grunde zu gehen?
In ſolche erſchreckliche Noth ſtürzet die Sünde. Dieſes iſt die erſte Lehre, welche mir das Exempel dieſes Verzweifelnden giebt. Als Judas mit dem erſten Gedan- ken ſeiner unmenſchlichen That beſchäftiget war, ſo ver- hinderte ihn ſein verblendetes Herz, die ſchreckbaren Fol- gen ſeiner Sünde einzuſehen. Er ſahe nicht weiter, als auf den elenden Genuß, welchen ihm der Beſitz einiger Tha-
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Zwanzigſte Betrachtung.
Unſeliges Ende des Verräthers Jeſu.
Matth. 27, 3. u. f.
Da Judas ſahe, daß Jeſus verdammet ward zum Tode, ge-
reuete es ihn, und brachte herwieder die dreyßig Silberlinge
den Hohenprieſtern und den Aelteſten, und ſprach: ich habe
übel gethan, daß ich unſchuldig Blut verrathen habe. Sie
ſprachen: Was gehet uns das an? Da ſiehe du zu. Und
er warf die Silberlinge in den Tempel, hub ſich davon, gieng
hin und erhenkte ſich ſelbſt.
Hier ſteht nun der unglückliche, betrogene Judas am
Rande des Abgrundes, dem er im Taumel ſeiner
Lüſte, ohne daß er es ſelbſt bemerkte, nahe gekom-
men war. Er ſteht da, ringt die Hände, ſieht die uner-
gründliche Tiefe deſſelben, geht einige Schritte zurück, nä-
hert ſich aufs neue demſelben und ſtürzt ſich voll Verzwei-
flung hinein. Voll Verzweiflung! — Ach, wer kann,
wer kann dieſes fürchterliche Wort verſtehen, wer kann
alle Schrecken, die darinn liegen, beſchreiben, ohne ſelbſt
die Martern der Verzweiflung empfunden zu haben? Und
wer kann dieſe Martern empfinden, ohne, wie dieſer ver-
blendete Sünder, unter dem Gefühl derſelben zu Grunde
zu gehen?
In ſolche erſchreckliche Noth ſtürzet die Sünde.
Dieſes iſt die erſte Lehre, welche mir das Exempel dieſes
Verzweifelnden giebt. Als Judas mit dem erſten Gedan-
ken ſeiner unmenſchlichen That beſchäftiget war, ſo ver-
hinderte ihn ſein verblendetes Herz, die ſchreckbaren Fol-
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Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang:
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Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781/113>, abgerufen am 26.06.2024.
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