Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775.Zwey und zwanzigste Betrachtung. Allein es blieb dennoch ein schmerzhaftes Leiden für Ach! die Tiefen meines Herzens sind unergründlich. ein
Zwey und zwanzigſte Betrachtung. Allein es blieb dennoch ein ſchmerzhaftes Leiden für Ach! die Tiefen meines Herzens ſind unergründlich. ein
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0124" n="102"/> <fw place="top" type="header">Zwey und zwanzigſte Betrachtung.</fw><lb/> <p>Allein es blieb dennoch ein ſchmerzhaftes Leiden für<lb/> meinen Heiland, da er in dem Pallaſte Herodis ein Opfer<lb/> der Neugier und ein Gegenſtand des ſchmählichſten Spot-<lb/> tes werden mußte. Dieſer leichtſinnige König hatte es<lb/> ſchon längſt gewünſcht, Jeſum zu ſehen, und ſein Vorwitz<lb/> machte ihn ſogar lüſtern, eine nähere Kenntniß von ihm<lb/> zu erhalten. Er war froh, daß er nun Gelegenheit be-<lb/> kam, einen allenthalben geprieſenen und bewunderten Pro-<lb/> pheten zu ſehen. Und als er ihn ſah, und das bey ihm<lb/> nicht fand, was ſeine Neugier befriedigen konnte, ſo ſcheute<lb/> er ſich nicht, einen gebundenen Unſchuldigen, über wel-<lb/> chen er kein Recht hatte, dem Muthwillen und dem Hohn-<lb/> gelächter ſeiner Hofleute darzuſtellen. Das Verhalten<lb/> Herodis erinnert mich an das Betragen ſo mancher Men-<lb/> ſchen, welche aus eitlen und verderbten Abſichten Jeſum<lb/> bekennen, oder unter dem Schein einer lobenswürdigen<lb/> Lehrbegierde einen unanſtändigen Vorwitz des Unglaubens<lb/> verrathen, oder mit den Thaten göttlicher Allmacht ver-<lb/> wegne Verſuche anſtellen wollen. Herodes mit ſeinem<lb/> Anhange ſey mir ein warnendes Beyſpiel, wie leicht es ge-<lb/> ſchehen kann, daß ich aus Vorwitz oder Leichtſinn Jeſum<lb/> verachte, und dadurch in den verderblichſten Unglauben<lb/> gerathe.</p><lb/> <p>Ach! die Tiefen meines Herzens ſind unergründlich.<lb/> So ſehr ich jetzt für die Wahrheit des Evangelii und für<lb/> die Gottſeligkeit eingenommen bin, ſo leicht kann ſich eine<lb/> verderbte Leidenſchaft meines Herzens bemächtigen, die<lb/> mich, wo nicht gehäßig, doch gleichgültig gegen alles Gu-<lb/> te macht. Diejenigen, welche jetzt mit ſo vielem Frevel<lb/> Gottes und ſeiner heiligen Religion ſpotten, waren viel-<lb/> leicht ehemals vorwitzige Zweifler, die nicht aus Liebe zur<lb/> Wahrheit, ſondern aus Neugier und Stolz ſich unnützen<lb/> Bedenklichkeiten überlieſſen. Vald aber bemächtigte ſich<lb/> <fw place="bottom" type="catch">ein</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [102/0124]
Zwey und zwanzigſte Betrachtung.
Allein es blieb dennoch ein ſchmerzhaftes Leiden für
meinen Heiland, da er in dem Pallaſte Herodis ein Opfer
der Neugier und ein Gegenſtand des ſchmählichſten Spot-
tes werden mußte. Dieſer leichtſinnige König hatte es
ſchon längſt gewünſcht, Jeſum zu ſehen, und ſein Vorwitz
machte ihn ſogar lüſtern, eine nähere Kenntniß von ihm
zu erhalten. Er war froh, daß er nun Gelegenheit be-
kam, einen allenthalben geprieſenen und bewunderten Pro-
pheten zu ſehen. Und als er ihn ſah, und das bey ihm
nicht fand, was ſeine Neugier befriedigen konnte, ſo ſcheute
er ſich nicht, einen gebundenen Unſchuldigen, über wel-
chen er kein Recht hatte, dem Muthwillen und dem Hohn-
gelächter ſeiner Hofleute darzuſtellen. Das Verhalten
Herodis erinnert mich an das Betragen ſo mancher Men-
ſchen, welche aus eitlen und verderbten Abſichten Jeſum
bekennen, oder unter dem Schein einer lobenswürdigen
Lehrbegierde einen unanſtändigen Vorwitz des Unglaubens
verrathen, oder mit den Thaten göttlicher Allmacht ver-
wegne Verſuche anſtellen wollen. Herodes mit ſeinem
Anhange ſey mir ein warnendes Beyſpiel, wie leicht es ge-
ſchehen kann, daß ich aus Vorwitz oder Leichtſinn Jeſum
verachte, und dadurch in den verderblichſten Unglauben
gerathe.
Ach! die Tiefen meines Herzens ſind unergründlich.
So ſehr ich jetzt für die Wahrheit des Evangelii und für
die Gottſeligkeit eingenommen bin, ſo leicht kann ſich eine
verderbte Leidenſchaft meines Herzens bemächtigen, die
mich, wo nicht gehäßig, doch gleichgültig gegen alles Gu-
te macht. Diejenigen, welche jetzt mit ſo vielem Frevel
Gottes und ſeiner heiligen Religion ſpotten, waren viel-
leicht ehemals vorwitzige Zweifler, die nicht aus Liebe zur
Wahrheit, ſondern aus Neugier und Stolz ſich unnützen
Bedenklichkeiten überlieſſen. Vald aber bemächtigte ſich
ein
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