Er gedachte an das ganze menschliche Geschlecht, zu dessen Versöhnung auch dieses Leiden dienen sollte. Denn in dem Augenblick, wo Jesus von seinem Volke verworfen wurde, trug er die Verschuldung, die auf uns ruhen sollte, und erwarb uns das Recht, daß wir nicht befürchten dürfen, von Gott verworfen zu werden.
Allein ich kann diesen traurigen Theil des Leidens Je- su nicht verlassen, ohne einige Lehren für mein Herz dar- aus herzuleiten. Ich sehe an dem Schicksale, welches Je- sus erfahren mußte, die Veränderlichkeit und den Wan- kelmuth des grossen Haufens. Eben das Volk, welches einige Tage zuvor Jesu Hosianna zurief, welches sich beei- ferte, ihm seine Achtung und Liebe zu bezeigen, erhebt jetzt die Stimme der Wuth und des Mordes gegen ihn. Wie kann ich mich also auf den Beyfall des grossen Haufens verlassen? Wie kann ich es erwarten, eine unveränder- liche Zuneigung zu geniessen? Heute werde ich vielleicht vergöttert, und morgen schon zu der geringsten Stufe der Menschen erniedriget seyn. Und wie geruhig kann ich dabey seyn, wenn ich mir meiner Unschuld bewußt bin! Wie gelassen kann ich bey allem Widerspruche, bey allen Lästerungen, bey allen Kunstgriffen der Bos- heit bleiben, wenn mich mein Herz überführet, daß ich vor Gott und Menschen rechtschaffen gewandelt habe! Gesetzt also, daß ich von der Welt als ein Scheusal be- trachtet würde: gesetzt, daß sie mich aus ihrer Gesell- schaft stiesse: es soll mir genug seyn, daß ich den Ruhm eines guten Gewissens, und die Ehre bey Gott habe: und daß ich ausser dieser Welt einen sichern Zufluchtsort weiß, wohin ich fliehen, und ewig ruhig leben kann.
Wenn man die herrschende Denkungsart der Welt bemerkt, so darf man sich nicht wundern, daß die Juden in ihrer Wahl in Absicht auf Jesum und Barrabam so
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Drey und zwanzigſte Betrachtung.
Er gedachte an das ganze menſchliche Geſchlecht, zu deſſen Verſöhnung auch dieſes Leiden dienen ſollte. Denn in dem Augenblick, wo Jeſus von ſeinem Volke verworfen wurde, trug er die Verſchuldung, die auf uns ruhen ſollte, und erwarb uns das Recht, daß wir nicht befürchten dürfen, von Gott verworfen zu werden.
Allein ich kann dieſen traurigen Theil des Leidens Je- ſu nicht verlaſſen, ohne einige Lehren für mein Herz dar- aus herzuleiten. Ich ſehe an dem Schickſale, welches Je- ſus erfahren mußte, die Veränderlichkeit und den Wan- kelmuth des groſſen Haufens. Eben das Volk, welches einige Tage zuvor Jeſu Hoſianna zurief, welches ſich beei- ferte, ihm ſeine Achtung und Liebe zu bezeigen, erhebt jetzt die Stimme der Wuth und des Mordes gegen ihn. Wie kann ich mich alſo auf den Beyfall des groſſen Haufens verlaſſen? Wie kann ich es erwarten, eine unveränder- liche Zuneigung zu genieſſen? Heute werde ich vielleicht vergöttert, und morgen ſchon zu der geringſten Stufe der Menſchen erniedriget ſeyn. Und wie geruhig kann ich dabey ſeyn, wenn ich mir meiner Unſchuld bewußt bin! Wie gelaſſen kann ich bey allem Widerſpruche, bey allen Läſterungen, bey allen Kunſtgriffen der Bos- heit bleiben, wenn mich mein Herz überführet, daß ich vor Gott und Menſchen rechtſchaffen gewandelt habe! Geſetzt alſo, daß ich von der Welt als ein Scheuſal be- trachtet würde: geſetzt, daß ſie mich aus ihrer Geſell- ſchaft ſtieſſe: es ſoll mir genug ſeyn, daß ich den Ruhm eines guten Gewiſſens, und die Ehre bey Gott habe: und daß ich auſſer dieſer Welt einen ſichern Zufluchtsort weiß, wohin ich fliehen, und ewig ruhig leben kann.
Wenn man die herrſchende Denkungsart der Welt bemerkt, ſo darf man ſich nicht wundern, daß die Juden in ihrer Wahl in Abſicht auf Jeſum und Barrabam ſo
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Drey und zwanzigſte Betrachtung.
Er gedachte an das ganze menſchliche Geſchlecht, zu deſſen
Verſöhnung auch dieſes Leiden dienen ſollte. Denn in dem
Augenblick, wo Jeſus von ſeinem Volke verworfen wurde,
trug er die Verſchuldung, die auf uns ruhen ſollte, und
erwarb uns das Recht, daß wir nicht befürchten dürfen,
von Gott verworfen zu werden.
Allein ich kann dieſen traurigen Theil des Leidens Je-
ſu nicht verlaſſen, ohne einige Lehren für mein Herz dar-
aus herzuleiten. Ich ſehe an dem Schickſale, welches Je-
ſus erfahren mußte, die Veränderlichkeit und den Wan-
kelmuth des groſſen Haufens. Eben das Volk, welches
einige Tage zuvor Jeſu Hoſianna zurief, welches ſich beei-
ferte, ihm ſeine Achtung und Liebe zu bezeigen, erhebt jetzt
die Stimme der Wuth und des Mordes gegen ihn. Wie
kann ich mich alſo auf den Beyfall des groſſen Haufens
verlaſſen? Wie kann ich es erwarten, eine unveränder-
liche Zuneigung zu genieſſen? Heute werde ich vielleicht
vergöttert, und morgen ſchon zu der geringſten Stufe
der Menſchen erniedriget ſeyn. Und wie geruhig kann
ich dabey ſeyn, wenn ich mir meiner Unſchuld bewußt
bin! Wie gelaſſen kann ich bey allem Widerſpruche,
bey allen Läſterungen, bey allen Kunſtgriffen der Bos-
heit bleiben, wenn mich mein Herz überführet, daß ich
vor Gott und Menſchen rechtſchaffen gewandelt habe!
Geſetzt alſo, daß ich von der Welt als ein Scheuſal be-
trachtet würde: geſetzt, daß ſie mich aus ihrer Geſell-
ſchaft ſtieſſe: es ſoll mir genug ſeyn, daß ich den Ruhm
eines guten Gewiſſens, und die Ehre bey Gott habe:
und daß ich auſſer dieſer Welt einen ſichern Zufluchtsort
weiß, wohin ich fliehen, und ewig ruhig leben kann.
Wenn man die herrſchende Denkungsart der Welt
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Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781/128>, abgerufen am 26.06.2024.
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