was thaten sie? Sie thaten das, was die Hölle thun würde, um den Fortgang der Laster zu befördern, und die Ausbreitung der Tugend zu verhindern: sie setzten den Mörder in Freyheit, und den Unschuldigen übergaben sie dem Tode.
Aber wer kann es beschreiben, was Jesus unter dieser Mißhandlung empfunden haben muß? Er wird mit einem Mörder verglichen, und die Entscheidung ver- räth es, daß man ihn für noch ärger, als einen Mörder gehalten hat. Nicht blos die äusserliche Schande war es, die ihn schmerzen mußte: sondern der traurigste Gedanke für ihn war dieser, daß ihn sein Volk, das Volk des Ei- genthums verwarf, und ihn nicht zum Heiland haben wollte. Drey Jahre lang hatte er sich damit beschäfti- get, die verlohrne Schafe des Hauses Israels zu suchen; und seine Kräfte in der Arbeit für das Wohl dieses Volks verzehret. Alle seine Wunder, seine Lehren, sein Wan- del konnte sie von seiner höhern Bestimmung, zum wenig- sten von seiner Unschuld überzeugen. Nun aber offen- bahrte es sich, daß er vergeblich gearbeitet, und ihre See- len umsonst zu retten gesucht hatte. Durch welche Wohl- thaten hatte er sich um sein Volk verdient gemacht! Dies war also der Lohn für seine wohlthätigen Beschäftigungen, für seine Nachtwachen, für seine mühseligen Reisen, und für alle die Arbeiten, die er zum Heil der Elenden über- nommen hatte. Mußte dies nicht seine Seele aufs tiefste verwunden, da er sahe, daß eine ganze Nation, für die er sich aufgeopfert hatte, so wenig an ihn gedachte, daß sie vielmehr einstimmig seinen Tod verlangte? Inzwischen trug er auch diese Schmach mit unüberwindlicher Geduld. Er gedachte nicht sowohl an das Unrecht, das ihm seine Feinde anthaten, als an den Willen seines Vaters, nach welchem er unter die Uebelthäter gezählet werden sollte.
Er
G 5
Austauſchung Jeſu gegen den Barrabas.
was thaten ſie? Sie thaten das, was die Hölle thun würde, um den Fortgang der Laſter zu befördern, und die Ausbreitung der Tugend zu verhindern: ſie ſetzten den Mörder in Freyheit, und den Unſchuldigen übergaben ſie dem Tode.
Aber wer kann es beſchreiben, was Jeſus unter dieſer Mißhandlung empfunden haben muß? Er wird mit einem Mörder verglichen, und die Entſcheidung ver- räth es, daß man ihn für noch ärger, als einen Mörder gehalten hat. Nicht blos die äuſſerliche Schande war es, die ihn ſchmerzen mußte: ſondern der traurigſte Gedanke für ihn war dieſer, daß ihn ſein Volk, das Volk des Ei- genthums verwarf, und ihn nicht zum Heiland haben wollte. Drey Jahre lang hatte er ſich damit beſchäfti- get, die verlohrne Schafe des Hauſes Iſraels zu ſuchen; und ſeine Kräfte in der Arbeit für das Wohl dieſes Volks verzehret. Alle ſeine Wunder, ſeine Lehren, ſein Wan- del konnte ſie von ſeiner höhern Beſtimmung, zum wenig- ſten von ſeiner Unſchuld überzeugen. Nun aber offen- bahrte es ſich, daß er vergeblich gearbeitet, und ihre See- len umſonſt zu retten geſucht hatte. Durch welche Wohl- thaten hatte er ſich um ſein Volk verdient gemacht! Dies war alſo der Lohn für ſeine wohlthätigen Beſchäftigungen, für ſeine Nachtwachen, für ſeine mühſeligen Reiſen, und für alle die Arbeiten, die er zum Heil der Elenden über- nommen hatte. Mußte dies nicht ſeine Seele aufs tiefſte verwunden, da er ſahe, daß eine ganze Nation, für die er ſich aufgeopfert hatte, ſo wenig an ihn gedachte, daß ſie vielmehr einſtimmig ſeinen Tod verlangte? Inzwiſchen trug er auch dieſe Schmach mit unüberwindlicher Geduld. Er gedachte nicht ſowohl an das Unrecht, das ihm ſeine Feinde anthaten, als an den Willen ſeines Vaters, nach welchem er unter die Uebelthäter gezählet werden ſollte.
Er
G 5
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0127"n="105"/><fwplace="top"type="header">Austauſchung Jeſu gegen den Barrabas.</fw><lb/>
was thaten ſie? Sie thaten das, was die Hölle thun<lb/>
würde, um den Fortgang der Laſter zu befördern, und<lb/>
die Ausbreitung der Tugend zu verhindern: ſie ſetzten den<lb/>
Mörder in Freyheit, und den Unſchuldigen übergaben ſie<lb/>
dem Tode.</p><lb/><p>Aber wer kann es beſchreiben, was Jeſus unter<lb/>
dieſer Mißhandlung empfunden haben muß? Er wird<lb/>
mit einem Mörder verglichen, und die Entſcheidung ver-<lb/>
räth es, daß man ihn für noch ärger, als einen Mörder<lb/>
gehalten hat. Nicht blos die äuſſerliche Schande war es,<lb/>
die ihn ſchmerzen mußte: ſondern der traurigſte Gedanke<lb/>
für ihn war dieſer, daß ihn ſein Volk, das Volk des Ei-<lb/>
genthums verwarf, und ihn nicht zum Heiland haben<lb/>
wollte. Drey Jahre lang hatte er ſich damit beſchäfti-<lb/>
get, die verlohrne Schafe des Hauſes Iſraels zu ſuchen;<lb/>
und ſeine Kräfte in der Arbeit für das Wohl dieſes Volks<lb/>
verzehret. Alle ſeine Wunder, ſeine Lehren, ſein Wan-<lb/>
del konnte ſie von ſeiner höhern Beſtimmung, zum wenig-<lb/>ſten von ſeiner Unſchuld überzeugen. Nun aber offen-<lb/>
bahrte es ſich, daß er vergeblich gearbeitet, und ihre See-<lb/>
len umſonſt zu retten geſucht hatte. Durch welche Wohl-<lb/>
thaten hatte er ſich um ſein Volk verdient gemacht! Dies<lb/>
war alſo der Lohn für ſeine wohlthätigen Beſchäftigungen,<lb/>
für ſeine Nachtwachen, für ſeine mühſeligen Reiſen, und<lb/>
für alle die Arbeiten, die er zum Heil der Elenden über-<lb/>
nommen hatte. Mußte dies nicht ſeine Seele aufs tiefſte<lb/>
verwunden, da er ſahe, daß eine ganze Nation, für die<lb/>
er ſich aufgeopfert hatte, ſo wenig an ihn gedachte, daß<lb/>ſie vielmehr einſtimmig ſeinen Tod verlangte? Inzwiſchen<lb/>
trug er auch dieſe Schmach mit unüberwindlicher Geduld.<lb/>
Er gedachte nicht ſowohl an das Unrecht, das ihm ſeine<lb/>
Feinde anthaten, als an den Willen ſeines Vaters, nach<lb/>
welchem er unter die Uebelthäter gezählet werden ſollte.<lb/><fwplace="bottom"type="sig">G 5</fw><fwplace="bottom"type="catch">Er</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[105/0127]
Austauſchung Jeſu gegen den Barrabas.
was thaten ſie? Sie thaten das, was die Hölle thun
würde, um den Fortgang der Laſter zu befördern, und
die Ausbreitung der Tugend zu verhindern: ſie ſetzten den
Mörder in Freyheit, und den Unſchuldigen übergaben ſie
dem Tode.
Aber wer kann es beſchreiben, was Jeſus unter
dieſer Mißhandlung empfunden haben muß? Er wird
mit einem Mörder verglichen, und die Entſcheidung ver-
räth es, daß man ihn für noch ärger, als einen Mörder
gehalten hat. Nicht blos die äuſſerliche Schande war es,
die ihn ſchmerzen mußte: ſondern der traurigſte Gedanke
für ihn war dieſer, daß ihn ſein Volk, das Volk des Ei-
genthums verwarf, und ihn nicht zum Heiland haben
wollte. Drey Jahre lang hatte er ſich damit beſchäfti-
get, die verlohrne Schafe des Hauſes Iſraels zu ſuchen;
und ſeine Kräfte in der Arbeit für das Wohl dieſes Volks
verzehret. Alle ſeine Wunder, ſeine Lehren, ſein Wan-
del konnte ſie von ſeiner höhern Beſtimmung, zum wenig-
ſten von ſeiner Unſchuld überzeugen. Nun aber offen-
bahrte es ſich, daß er vergeblich gearbeitet, und ihre See-
len umſonſt zu retten geſucht hatte. Durch welche Wohl-
thaten hatte er ſich um ſein Volk verdient gemacht! Dies
war alſo der Lohn für ſeine wohlthätigen Beſchäftigungen,
für ſeine Nachtwachen, für ſeine mühſeligen Reiſen, und
für alle die Arbeiten, die er zum Heil der Elenden über-
nommen hatte. Mußte dies nicht ſeine Seele aufs tiefſte
verwunden, da er ſahe, daß eine ganze Nation, für die
er ſich aufgeopfert hatte, ſo wenig an ihn gedachte, daß
ſie vielmehr einſtimmig ſeinen Tod verlangte? Inzwiſchen
trug er auch dieſe Schmach mit unüberwindlicher Geduld.
Er gedachte nicht ſowohl an das Unrecht, das ihm ſeine
Feinde anthaten, als an den Willen ſeines Vaters, nach
welchem er unter die Uebelthäter gezählet werden ſollte.
Er
G 5
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang:
Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781/127>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.