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Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775.

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Dreyßigste Betrachtung.
nen Theil des Berges Morija aus, auf welchem Isaak
geopfert werden sollte. Er war wegen seiner Bestimmung
äuserst schimpflich, da alle Missethäter auf demselben hin-
gerichtet wurden. Da nun unser Erlöser an diesem Orte
seinen Tod erduldete, so wurden von Gott die wichtigsten
Absichten erhalten. Es war alles daran gelegen, daß man
eine Ueberzeugung von der Gewißheit des Todes Jesu er-
hielt. Wie vielen Zweifeln aber würde der Tod Jesu aus-
gesetzt gewesen seyn, wenn er an einem Privatorte erfolgt
wäre! Gesetzt, Jesus wäre im Tempel oder an einem Or-
te getödtet worden, wo nicht seine Freunde und Feinde Au-
genzeugen seines Todes hätten seyn können, wie hätte der
Ungläubige widerlegt, und der Schwachgläubige gestärkt
werden können? Man könnte einwenden: vielleicht ha-
ben die Freunde Jesu andre bestochen, daß sie nur zum
Schein seinen Tod ausbreiteten, aber ihn nicht wirklich voll-
zogen. Vielleicht hatte Jesus nur in einer Ohnmacht ge-
legen, als man glaubte, daß sein Tod erfolgt wäre. Mit
einem Worte: die Feinde Jesu hätten Gelegenheit gehabt,
seinen Tod für einen feinen Betrug, und seine Auferste-
hung, für eine Unwahrheit anzusehen. Alle diese Einwen-
dungen des Unglaubens wurden dadurch, daß Jesus an
der öffentlichen Gerichtsstätte starb, zernichtet, und die
Gewißheit seines Todes ausser allen Zweifel gesetzt. Das
jüdische Volk konnte seine Ausführung ansehen. Sie konn-
ten sehen, daß der Mann, welcher den Abend vorher
gefangen genommen worden, eben derjenige sey, der am
Kreuze hieng. Sie konnten an ihm die allmählige Abnah-
me seiner Kräfte und die Annäherung seines Todes bemer-
ken. Sie konnten seine letzten Reden anhören, mit wel-
chen er seine Seele den Händen seines Vaters übergab.
Sie sahen, daß zu desto grösserer Versicherung seines To-
des, ein Speer ihm in die Brust gebohrt wurde, welcher

ihn

Dreyßigſte Betrachtung.
nen Theil des Berges Morija aus, auf welchem Iſaak
geopfert werden ſollte. Er war wegen ſeiner Beſtimmung
äuſerſt ſchimpflich, da alle Miſſethäter auf demſelben hin-
gerichtet wurden. Da nun unſer Erlöſer an dieſem Orte
ſeinen Tod erduldete, ſo wurden von Gott die wichtigſten
Abſichten erhalten. Es war alles daran gelegen, daß man
eine Ueberzeugung von der Gewißheit des Todes Jeſu er-
hielt. Wie vielen Zweifeln aber würde der Tod Jeſu aus-
geſetzt geweſen ſeyn, wenn er an einem Privatorte erfolgt
wäre! Geſetzt, Jeſus wäre im Tempel oder an einem Or-
te getödtet worden, wo nicht ſeine Freunde und Feinde Au-
genzeugen ſeines Todes hätten ſeyn können, wie hätte der
Ungläubige widerlegt, und der Schwachgläubige geſtärkt
werden können? Man könnte einwenden: vielleicht ha-
ben die Freunde Jeſu andre beſtochen, daß ſie nur zum
Schein ſeinen Tod ausbreiteten, aber ihn nicht wirklich voll-
zogen. Vielleicht hatte Jeſus nur in einer Ohnmacht ge-
legen, als man glaubte, daß ſein Tod erfolgt wäre. Mit
einem Worte: die Feinde Jeſu hätten Gelegenheit gehabt,
ſeinen Tod für einen feinen Betrug, und ſeine Auferſte-
hung, für eine Unwahrheit anzuſehen. Alle dieſe Einwen-
dungen des Unglaubens wurden dadurch, daß Jeſus an
der öffentlichen Gerichtsſtätte ſtarb, zernichtet, und die
Gewißheit ſeines Todes auſſer allen Zweifel geſetzt. Das
jüdiſche Volk konnte ſeine Ausführung anſehen. Sie konn-
ten ſehen, daß der Mann, welcher den Abend vorher
gefangen genommen worden, eben derjenige ſey, der am
Kreuze hieng. Sie konnten an ihm die allmählige Abnah-
me ſeiner Kräfte und die Annäherung ſeines Todes bemer-
ken. Sie konnten ſeine letzten Reden anhören, mit wel-
chen er ſeine Seele den Händen ſeines Vaters übergab.
Sie ſahen, daß zu deſto gröſſerer Verſicherung ſeines To-
des, ein Speer ihm in die Bruſt gebohrt wurde, welcher

ihn
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[136/0158] Dreyßigſte Betrachtung. nen Theil des Berges Morija aus, auf welchem Iſaak geopfert werden ſollte. Er war wegen ſeiner Beſtimmung äuſerſt ſchimpflich, da alle Miſſethäter auf demſelben hin- gerichtet wurden. Da nun unſer Erlöſer an dieſem Orte ſeinen Tod erduldete, ſo wurden von Gott die wichtigſten Abſichten erhalten. Es war alles daran gelegen, daß man eine Ueberzeugung von der Gewißheit des Todes Jeſu er- hielt. Wie vielen Zweifeln aber würde der Tod Jeſu aus- geſetzt geweſen ſeyn, wenn er an einem Privatorte erfolgt wäre! Geſetzt, Jeſus wäre im Tempel oder an einem Or- te getödtet worden, wo nicht ſeine Freunde und Feinde Au- genzeugen ſeines Todes hätten ſeyn können, wie hätte der Ungläubige widerlegt, und der Schwachgläubige geſtärkt werden können? Man könnte einwenden: vielleicht ha- ben die Freunde Jeſu andre beſtochen, daß ſie nur zum Schein ſeinen Tod ausbreiteten, aber ihn nicht wirklich voll- zogen. Vielleicht hatte Jeſus nur in einer Ohnmacht ge- legen, als man glaubte, daß ſein Tod erfolgt wäre. Mit einem Worte: die Feinde Jeſu hätten Gelegenheit gehabt, ſeinen Tod für einen feinen Betrug, und ſeine Auferſte- hung, für eine Unwahrheit anzuſehen. Alle dieſe Einwen- dungen des Unglaubens wurden dadurch, daß Jeſus an der öffentlichen Gerichtsſtätte ſtarb, zernichtet, und die Gewißheit ſeines Todes auſſer allen Zweifel geſetzt. Das jüdiſche Volk konnte ſeine Ausführung anſehen. Sie konn- ten ſehen, daß der Mann, welcher den Abend vorher gefangen genommen worden, eben derjenige ſey, der am Kreuze hieng. Sie konnten an ihm die allmählige Abnah- me ſeiner Kräfte und die Annäherung ſeines Todes bemer- ken. Sie konnten ſeine letzten Reden anhören, mit wel- chen er ſeine Seele den Händen ſeines Vaters übergab. Sie ſahen, daß zu deſto gröſſerer Verſicherung ſeines To- des, ein Speer ihm in die Bruſt gebohrt wurde, welcher ihn

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Zitationshilfe: Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781/158>, abgerufen am 21.11.2024.